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OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 21.07.2023 - 4 MB 13/23 - asyl.net: M32093
https://www.asyl.net/rsdb/m32093
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz nach Ablehnung eines Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG:

1. Ein Ausländer, der im Besitz einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Dauer­aufenthaltserlaubnis-EU ist und nunmehr im Bundesgebiet einen dauerhaften Aufenthalt beabsichtigt, kann ohne nationales Visum in das Bundesgebiet einreisen und sich hier zunächst bis zu drei Monate aufhalten, um die angestrebte Erlaubnis nach § 38a Abs. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) einzuholen. Dies folgt aus einer mit der Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG (juris: EGRL 109/2003) konformen Auslegung des § 39 S. 1 Nr. 6 AufenthV (Rn. 29).

2. Will der in dem ersten Mitgliedstaat langfristig Aufenthaltsberechtigte hier einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, zählt die von § 38a Abs. 3 S. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) geforderte Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit nach § 39 Abs. 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) zu den Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (Rn. 36).

3. Der Lebensunterhalt des in dem ersten Mitgliedstaat langfristig Aufenthaltsberechtigten kann i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) auch durch feste und regelmäßige Einkünfte gesichert werden, die von einem Familienangehörigen stammen, solange es an der zur Ausübung einer Beschäftigung berechtigenden Aufenthaltserlaubnis fehlt (Rn. 43).

4. Hat die Ausländerbehörde nur den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis des im ersten Mitgliedstaat langfristig Aufenthaltsberechtigten abgelehnt und nur ihm gegenüber eine Abschiebungs­androhung erlassen, ist für einen Antrag auf Gewährung vorläufigen oder auch vorbeugenden Rechtsschutzes für die nach Maßgabe des Art. 16 RL 2003/109/EG (juris: EGRL 109/2003) zu behandelnden Familienangehörigen noch kein Raum (Rn. 62).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Daueraufenthaltsberechtigte, Aufenthaltserlaubnis, Visumspflicht, Visumsverfahren,
Normen: AufenthG § 38a Abs. 1, AufenthG § 38a Abs. 3 S. 1, AufenthG § 39 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthV § 39 S. 1 Nr. 6, RL 2003/109/EG Art 16
Auszüge:

[...]

22 Der Aufenthalt des Antragstellers zu 1 war zum Zeitpunkt der Antragstellung am 9. Dezember 2021 rechtmäßig. Einreise und Aufenthalt sind durch den Besitz einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten und gültigen Daueraufenthaltserlaubnis-EU legitimiert. Der Antrag wurde innerhalb von drei Monaten nach der Einreise in das Bundesgebiet gestellt mit der unstreitigen Absicht, sich für einen längeren Zeitraum als drei Monate im Bundesgebiet aufzuhalten. Insoweit folgt der Senat der mit der Beschwerde geltend gemachten Auffassung, dass die Einholung eines nationalen Visums vor der Einreise nicht erforderlich war. [...]

23 aa. Im Streit ist eine Aufenthaltserlaubnis nach Art. 38a AufenthG. Diese Vorschrift setzt die Mobilitätsregelungen in Art. 14 und 15 RL 2003/109/EG (Daueraufenthaltsrichtlinie [...]). Art. 14 Abs. 1 RL 2003/109/EG bestimmt, dass ein langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger das Recht erwirbt, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten, sofern die in Kapitel III festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Nach Art. 14 Abs. 2 RL 2003/109/EG kann sich ein langfristig Aufenthaltsberechtigter a) zur Ausübung einer unselbstständigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit, b) zur Absolvierung eines Studiums oder einer Berufsausbildung, oder c) für sonstige Zwecke in einem zweiten Mitgliedstaat aufhalten. Nach Art. 15 Abs. 1 RL 2003/109/EG beantragt der langfristig Aufenthaltsberechtigte unverzüglich, spätestens jedoch drei Monate nach seiner Einreise in den zweiten Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel bei den zuständigen Behörden jenes Mitgliedstaats.

24 Hieraus folgt, dass die in dem ersten Mitgliedstaat langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen berechtigt sein sollen, ohne weiteren Aufenthaltstitel in den zweiten Mitgliedstaat einzureisen und sich dort zunächst bis zu drei Monate aufzuhalten, um die notwendige Erlaubnis für einen über drei Monate hinausgehenden Aufenthalt einzuholen [...].

25 Dies ergibt sich auch aus den Erwägungsgründen 18 und 19 der Daueraufenthaltsrichtlinie. Ziel der festgelegten Bedingungen ist es, dass der Binnenmarkt als Raum, in dem Freizügigkeit für jedermann gewährleistet ist, Realität wird. Das Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, soll ausgeübt werden können, um eine unselbstständige oder selbstständige Erwerbstätigkeit auszuüben, ein Studium zu absolvieren oder auch ohne eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben. Damit soll die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig und dauerhaft in einem Mitgliedstaat aufhalten, im Wege einer "kleinen Freizügigkeit" der Rechtsstellung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden [...]. Eine Visumpflicht wäre mit dieser Freizügigkeit nicht vereinbar.

26 Der ansonsten grundsätzlich tragfähige Gesichtspunkt, dass regelmäßig auf die Nachholung eines Visumverfahrens nicht verzichtet werden kann, muss demgegenüber zurücktreten [...]. Die Richtlinie ist nach Art. 288 Abs. 3 AEUV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich und muss in verbindliche innerstaatliche Vorschriften umgesetzt werden. Unvollständige oder unklare nationale Rechtsnormen sind so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie auszulegen [...].

27 bb. Entgegen der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist deshalb von der Möglichkeit einer visumfreien Einreise und damit eines rechtmäßigen Aufenthalts zum Zeitpunkt der Antragstellung i.S.d. § 81 Abs. 3 AufenthG auszugehen. [...]