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LG Mainz

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Zitieren als:
LG Mainz, Beschluss vom 07.08.2024 - 8 T 149/24 - asyl.net: M32638
https://www.asyl.net/rsdb/m32638
Leitsatz:

Anwaltswechsel und Wahlrecht bezüglich der anwaltlichen Vertretung gem. § 62d AufenthG: 

Nach § 62d AufenthG bestellt das Gericht den Betroffenen, die noch keine anwaltliche Vertretung haben, von Amts wegen für die Dauer des Verfahrens über die Anordnung von Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam eine anwaltliche Vertretung als Bevollmächtigte*n. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gewährleistet den Betroffenen eine anwaltliche Vertretung seiner/ihrer Wahl. Dieses rechtsstaatliche Prinzip gilt auch bei einem Wechsel der anwaltlichen Vertretung, wenn dem/der Betroffenen vorher faktisch kein Wahlrecht bzgl. der anwaltlichen Vertretung gegeben war. Dieses Wahlrecht ist vor und ausnahmsweise während des Anhörungstermins durch Befragung des/der Betroffenen zu gewährleisten. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Pflichtverteidigung, Rechtsanwalt, Wahlrecht, Anwaltswechsel, Pflichtanwalt,
Normen: AufenthG § 62d, StPO § 140, StPO § 143a
Auszüge:

[...]

Mit Wirkung zum 27.02.2024 wurde § 62d AufenthG eingeführt. Hiernach bestellt das Gericht dem Betroffenen, der noch keinen anwaltlichen Vertreter hat, zur richterlichen Entscheidung über die Anordnung von Abschiebungshaft und Ausreisegewahrsam von Amts wegen für die Dauer des Verfahrens einen anwaltlichen Vertreter als Bevollmächtigten.

Obgleich Problemstellungen, vergleichbar mit denen der Pflichtverteidigerbestellung im Strafverfahren, offenkundig vorhersehbar waren, hat der Gesetzgeber davon abgesehen, flankierende Vorschriften zur Bestellung des anwaltlichen Vertreters zu erlassen. In der Gesetzesbegründung wird lediglich festgestellt, dass die Regelungen der §§ 140 ff. StPO nicht anwendbar seien, wobei dies offenkundig auf die rechtliche Situation vor der Einführung des § 62d AufenthG abzielt [...].

Die Rechtsprechung greift deshalb auf die §§ 140 ff. StPO entweder in analoger Anwendung oder doch zumindest auf die in diesen Normen verkörperten rechtsstaatlichen Grundprinzipien zurück.

Die Kammer sieht zwar für eine analoge Anwendung (insbesondere des § 143a StPO) keinen Raum, da keine vergleichbare Interessenlage zwischen Strafverfahren und Abschiebehaftverfahren besteht und eine planwidrige Regelungslücke aufgrund der absichtlichen Nichtregelung des Gesetzgebers nicht gegeben ist.

Auf Grundlage des rechtsstaatlichen Prinzips des fairen Verfahrens ist jedoch zumindest dann eine Auswechslung des auf Grundlage des § 62d AufenthG bestellten anwaltlichen Vertreters angezeigt, wenn dem Betroffenen (faktisch) kein Wahlrecht eingeräumt wurde.

Denn der Grundsatz des fairen Verfahrens gewährleistet das Recht des Betroffenen, sich im Verfahren von einem gewählten Anwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, der ihm deshalb - wenn möglich und wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen - auch i.S.d. § 62d AufenthG beizuordnen ist. Denn durch die Beiordnung soll dem Betroffenen grundsätzlich derselbe Schutz zuteil werden, als hätte er sich zuvor einen Vertreter ausgewählt [...].

Dieses Wahlrecht ist durch eine Befragung des Betroffenen vor oder ausnahmsweise während dem Anhörungstermin zu gewährleisten. Hierzu kann es auch gehören, dass dieser sich in angemessener Zeit über die zur Auswahl stehenden Rechtsanwälte (bspw. über das Internet) informiert, ohne den Anhörungstermin unangemessen zu verzögern. Diese Frist kann - ausgehend von den bestehenden Möglichkeiten - auch relativ kurz sein und muss den für § 142 Abs. 5 StPO entwickelten Grundsätzen, die teilweise mehrwöchige Fristen vorsehen [...], nicht entsprechen. Es ist insoweit zugrunde zu legen, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 62d AufenthG die Verfahrenssituation einer eilbedürftigen Entscheidung und kurzfristigen Inhaftierung des Betroffenen berücksichtigt hat.

Dem Betroffenen wurde in diesem Fall eine - auch kurze - Frist zur Ausübung seines Wahlrechts nicht zugebilligt. Ausweislich des Anhörungsprotokolls vom 20.06.2024 (Bl. 23 der amtsger. A.) wurde ihm lediglich mitgeteilt, dass ihm ein Verfahrensbevollmächtigter zu bestellen sei und er hierzu angehört werde.

Hierin ist auch kein Verzicht auf das Wahlrecht zu erblicken. Ein solcher ist zwar grundsätzlich möglich (vgl. LG Augsburg, a.a.O. [Rn. 221). Voraussetzung ist jedoch, dass der Beschuldigte damit bewusst einen ausdrücklichen Verzicht auf die Ausübung seines Wahlrechts zum Ausdruck bringt. Dies liegt hier nicht vor. [...]