VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 29.07.2024 - M 10 S 24.50732 - asyl.net: M32679
https://www.asyl.net/rsdb/m32679
Leitsatz:

Systemische Mängel im kroatischen Asylsystem:

1. Asylsuchenden droht bei Rückführung nach Kroatien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Kettenabschiebung nach Bosnien-Herzegowina, wenn sie unerlaubt von dort nach Kroatien eingereist sind.

2. Gegenüber Asylsuchenden übergriffige Polizeibeamte sind ein systemisches Phänomen in Kroatien. Körperliche Gewalt in Form von Schlägen und eine zwangsweise Entkleidung auf einer Toilette in Anwesenheit einer Polizeibeamtin stellen ein im Kontext des Art. 3 EMRK nicht mehr hinzunehmendes Maß an Demütigung und Herabwürdigung dar.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf VG München, Urteil vom 22.02.2024 - M 10 K 23.50597 - asyl.net: M32448)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kroatien, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Suspensiveffekt,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a); VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3, Unterabs. 2; EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

19 b) Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Kammer mit (zwischenzeitlich rechtskräftig gewordenen) Urteilen vom 22. Februar 2024, auf deren Entscheidungsgründe vollumfänglich Bezug genommen wird, entschieden, dass im Mitgliedstaat Kroatien in mehrfacher Hinsicht systemische Mängel im dortigen Asylsystem vorliegen, aus denen sich die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Verletzung des Rechts aus Art. 4 GRCh ergeben kann (M 10 K 22.50479, M 10 K 23.50597 – beide juris). Hieran ist angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklung der Erkenntnismittellage (vgl. insbesondere zuletzt AIDA [10.7.2024], Country Report Croatia, Update 2023, S. 27 f.) seit dem Ergehen der oben genannten Kammerurteile ungeachtet der vom Bundesamt in Bezug genommenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung weiter festzuhalten. [...]

20 Nach den Angaben der Antragstellerin im Rahmen ihres persönlichen Gesprächs gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin III-VO, die nach dem vorliegenden Inhalt der Behördenakte uneingeschränkt verifizierbar sind [...] ist davon auszugehen, dass sie auf dem Landweg unerlaubt von Bosnien-Herzegowina (als Transitland) nach Kroatien eingereist ist. Ausgehend von den verfügbaren Informationen zur Örtlichkeit des Aufgriffs der Antragstellerin können die kroatischen Behörden im Sinn des bilateralen Rückübernahmeabkommens mit Bosnien-Herzegowina "vernünftigerweise annehmen" (vgl. Art. 2 Abs. 1 des Abkommens), dass sie unmittelbar nach der Durchquerung von Bosnien-Herzegowina unerlaubt nach Kroatien eingereist ist. [...] Unter Berücksichtigung aller relevanten Vorschriften des bilateralen Rückübernahmeabkommens kann daher Kroatien seinerseits gegenüber Bosnien-Herzegowina gemäß Art. 2 Abs. 1 des Abkommens im regulären Verfahren – flankierend durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG, gegebenenfalls auch im Weg des Art. 33 Abs. 2 Buchst. c i.V.m. Art. 39 Abs. 1 RL 2013/32/EU – erzwingen, die Antragstellerin wiederaufzunehmen. Diese Regelungsmechanismen, die vorliegend tatbestandlich einschlägig sind, begründen unter ergänzender Berücksichtigung der Erkenntnisse zur gegenwärtigen Vollzugspraxis dieses Abkommens die hinreichende bzw. beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Kettenabschiebung nach Bosnien-Herzegowina (vgl. ausführlich VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris Rn. 44 ff.). Unabhängig davon war die Antragstellerin offenbar in Kroatien bereits entwürdigenden Behandlungen durch die dortige Polizei ausgesetzt (vgl. allg. zu physischer Gewalt durch Vollzugsbeamte, insbesondere auch einer angeordneten Entkleidung: EGMR, U.v. 22.10.2020 – Roth/Deutschland, Nr. 6780/18, 30776/18, Rn. 66 ff. = NJW 2022, 35), wobei es sich entgegen der Darstellung des Bundesamts im angefochtenen Bescheid nicht um einen "Einzelfall" durch übergriffige Beamte, sondern um ein systemisch bestehendes Phänomen/Problem handelt (vgl. VG München, U.v. 22.2.2024 – M 10 K 22.50479 – juris Rn. 41 f.; vgl. auch B.v. 17.7.2023 – M 10 S 23.50684 – juris Rn. 4: Entkleiden und Leibesvisitation unter Zuhilfenahme von Hunden vor einer Menschenmenge). Körperliche Gewalt in Form von Schlägen und eine (mehr oder weniger) zwangsweise durchgeführte Entkleidung auf einer Toilette in Anwesenheit einer Polizeibeamtin stehen mit der ursprünglich verlangten Abgabe der Fingerabdrücke bzw. deren Durchsetzung durch Verwaltungszwang in keinem sachlichen Zusammenhang und dürfte vorliegend in der konkreten Art und Weise der Durchführung unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein im Kontext des Art. 3 EMRK wohl nicht mehr hinzunehmendes Maß an Demütigung und Herabwürdigung für die Antragstellerin erreicht haben. [...]

22 [...] Dabei ist auch nochmals klarzustellen bzw. zu betonen, dass es in diesem Zusammenhang nicht um gewaltsame "Push-Backs" an der Grenzlinie bzw. im grenznahen Bereich zu Bosnien-Herzegowina geht. Die 10. Kammer hat in ihren Kammerurteilen vom 22. Februar 2024 auch nicht entscheidungstragend darauf abgestellt, dass "Push-Backs" im Grenzbereich die beachtlich wahrscheinliche Gefahr von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina begründen würden (vgl. auch zuletzt EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 57 ff. = ZAR 2024, 171 ff. m. Anm. Pfersich), sondern unter Heranziehung gerade auch der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32-34) und anderer Obergerichte (vgl. HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 48-51; OVG Saarl, U.v. 9.3.2017 – 2 A 364/16 – juris Rn. 28; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48-52) darauf abgestellt, dass das regelhafte Stattfinden von Rücküberstellungen vom Dublin-Zielstaat in einen Nicht-EU-Drittstaat aufgrund eines völkerrechtlichen bilateralen Rückübernahmeabkommens im rechtlichen Kontext des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO beachtlich ist. Welche konkrete Entscheidungsform (Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG mit oder ohne asylrechtliche Drittstaatenentscheidung) dem Vollzug eines Rücküberstellungsgesuchs nach dem Rückübernahmeabkommen vorausgeht, ist dabei auch letztendlich nicht entscheidungserheblich, solange es Kroatien nach den aus dem letzten AIDA-Update zu entnehmenden Informationen erkennbar darauf ankommt, Drittstaatsangehörige regelhaft nach Bosnien-Herzegowina zu überstellen und ihnen dabei zugleich den Zugang zum Asylverfahren abzuschneiden. [...]

23 [...] Auch Drittstaatsangehörige, die in Kroatien bislang "nur" ein Asylgesuch geäußert haben und nach den Erkenntnismitteln vom Vollzug des bilateralen Rückübernahmeabkommens betroffen sind, gelten als im unionsrechtlichen Sinn als Antragsteller (Art. 2 Buchst. b RL 2013/32/EU) – ebenso wie rückgeführte Personen nach der Dublin III-VO, die nach Ankunft in Kroatien erklären (müssen), ihr (zwischenzeitlich eingestelltes) Asylverfahren wiederaufnehmen zu wollen. Insofern ist die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung immer wieder anzutreffende Ausführung, dass "Dublin-Rückkehrer im kroatischen Asylsystem bereits registriert" seien, im rechtlichen Kontext des Art. 2 Buchst. b RL 2013/32/EU ohne Bedeutung und blendet überdies den Umstand aus, dass nach der Standard-Mitteilung Kroatiens auf Wiederaufnahmegesuche der Antragsgegnerin die Asylverfahren in Kroatien regelmäßig eingestellt oder in absentia negativ entschieden worden sind. Aus diesem Grund dürfte auch zu erklären sein, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beim regelhaften Stattfinden von Abschiebungen vom Dublin-Zielstaat in einen Nicht-EU-Drittstaat die Beweislast für die Behauptung, eine im Weg des Dublin-Systems rückgeführte Person sei von einer derartigen Vollzugspraxis nicht betroffen, beim Bundesamt gesehen hat [...]. Das Gericht merkt vorsorglich an, dass sich das Bundesamt wohl früher oder später nicht nur mit der  oben genannten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2017 (13a B 17.50003 – juris Rn. 34 a.E.), sondern generell auch mit den neueren, hier herangezogenen Erkenntnismitteln wie etwa dem AIDA-Update vom 10. Juli 2024 (S. 27 u. S. 28) befassen müssen wird. [...]