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VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 17.10.2024 - 2 A 1157/23 - asyl.net: M32805
https://www.asyl.net/rsdb/m32805
Leitsatz:

Gruppenverfolgung alleinstehender Frauen im Irak: 

1. Alleinstehende irakische Frauen ohne schutzbereite männliche Verwandte bilden eine soziale Gruppe und müssen befürchten, (in einem irakischen Flüchtlingslager) geschlechtsspezifischer Verfolgung sowohl von Seiten staatlicher als auch nichtstaatlicher Akteure ausgesetzt zu sein.

2. Frauen im gesamten Spektrum der irakischen Gesellschaft sind von Problemen wie einer hohen Rate häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt, geringer wirtschaftlicher Teilhabe, ungerechten Gesetzen, missbräuchlichen kulturellen Praktiken, dem Ausschluss von Entscheidungsprozessen und unzureichendem staatlichen Schutz betroffen. Alleinstehende Frauen, die von ihrer Familie keine Unterstützung erfahren, werden häufig Opfer von (sexueller) Gewalt und Diskriminierung. Insbesondere Frauen aus von Frauen geführten Haushalten in Binnenvertriebenenlagern sind sexueller Gewalt ausgesetzt, einschließlich Vergewaltigung und sexueller Ausbeutung durch Regierungstruppen und Lagerbewohner.

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Irak, Jesiden, Yeziden, Frauen, alleinstehende Frauen, Gruppenverfolgung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Ob eine gruppengerichtete Verfolgung der Yeziden noch immer andauert, kann an dieser Stelle offenbleiben (vgl. aber den bereits zitierten Beschluss des Deutschen Bundestages), die Klägerin kann jedoch aus anderem Grund Flüchtlingsschutz beanspruchen.

Unter Berücksichtigung dieser Rückkehrprognose für die Klägerin ist das Gericht davon überzeugt, dass der Klägerin Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige. Eine Gruppe gilt nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Diese Merkmale sind für die Gruppe der alleinstehenden Frauen im Irak erfüllt, weil sie von der irakischen Mehrheitsgesellschaft als andersartig wahrgenommen werden und diversen Verfolgungsmaßnahmen aufgrund dieser Zuschreibung ausgesetzt sind. [...]

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs bilden alleinstehende und insbesondere alleinstehende yezidische Frauen eine besonders bedrohte soziale Gruppe. Während eines Großteils des 20. Jahrhunderts machten die Frauen im Irak erhebliche Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung und erreichten relativ hohe Raten bei der Hochschulbildung und der Beschäftigung in Berufen und im öffentlichen Dienst. Viele dieser Fortschritte wurden in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Saddam Husseins wieder zunichtegemacht. Seit der Militäraktion unter Führung der USA im Jahr 2003 führten bewaffnete Konflikte und das Wiedererstarken stammesbezogener und religiöser Einflüsse zu einer ernsthaften Verschlechterung der Lage der Frauen im Irak. Auch wenn die individuellen Umstände variieren, sind Frauen im gesamten Spektrum der irakischen Gesellschaft von Problemen wie einer hohen Rate häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt, einer geringen wirtschaftlichen Teilhabe, ungerechten Gesetzen, missbräuchlichen kulturellen Praktiken, dem Ausschluss von Entscheidungsprozessen und unzureichendem staatlichen Schutz betroffen [...]. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben im Irak verhindert [...]. Die Bewegungsfreiheit von Frauen wird durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist. Frauen wird  überproportional häufig der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Nur 14 % der Frauen sind erwerbstätig oder aktiv auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, verglichen mit 73 % der Männer. Die Jugendarbeitslosigkeit bei Frauen und Mädchen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren wird auf etwa 63,3 % geschätzt (Stand 2017). Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind [...].

Alleinstehende Frauen sind in Irak, inklusive der Autonomen Region Kurdistan-Irak, gesellschaftlich kaum akzeptiert. Leben Frauen alleine, wird dies als unangemessen betrachtet, da sie keinen männlichen "Beschützer" haben. In der Folge werden sie häufig Opfer von (sexueller) Gewalt und Diskriminierung. Alleinstehende Frauen, die von ihrer Familie keine Unterstützung erfahren, sind hiervon besonders häufig betroffen, ebenso wie (Binnen-)Flüchtlinge [...]. Während sexuelle Übergriffe, wie z. B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Art. 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet. Dies gilt sowohl im Irak als auch in der Autonomen Region Kurdistan-Irak. Eine Bestimmung verhindert hierbei eine Scheidung innerhalb der ersten drei Ehejahre. Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar. Die Bemühungen irakischer Frauenrechtsorganisationen, das Parlament zur Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot geschlechtsspezifischer Gewalt zu bewegen, blieben bisher erfolglos [...].

Fälle von (tödlicher) geschlechtsspezifischer Gewalt kommen in ganz Irak, inklusive in der kurdischen Region, häufig vor [...]. 2020 wurden 30 Fälle von konfliktbezogener sexueller Gewalt durch bewaffnete Akteure hauptsächlich gegen Frauen verzeichnet. In der RKI ist die Zahl der Frauenmorde gestiegen. Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 wurden in der RKI elf Frauen getötet, die meisten von ihnen durch Schüsse [...]. Landesweit soll im Jahr 2022 die Tötung von mindestens 150 Frauen mit dem Vorwand des "Ehrenmordes" gerechtfertigt worden sein [...]. Nach Ermittlungen des General Directorate for Combatting Violence Against Women (GDCVAW), einer Behörde des kurdisch-irakischen Innenministeriums, wurden im Jahr 2021 in Kurdistan-Irak 24 Frauen getötet, 26 Frauen begingen Selbstmord, 86 Frauen wurden verbrannt, 153 Frauen wurden sexuell belästigt und 13.259 Frauen berichteten über sonstige Gewalt gegen sie [...]. Die Weltgesundheitsorganisation schätzte in einem Bericht aus 2022, dass 1,32 Millionen Menschen im Irak von verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sind, und mehr als 75 Prozent von ihnen sind Frauen und heranwachsende Mädchen [...].

Flüchtlinge und Binnenvertriebene berichten von regelmäßiger sexueller Belästigung, sowohl in den Lagern als auch in den Städten. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass das Sicherheitspersonal von Vertriebenenlagern weibliche Binnenvertriebene zu sexuellen Gefälligkeiten im Austausch für die Bereitstellung von Grundversorgungsleistungen aufforderte. Zu den Tätern sexuellen Missbrauchs gehören neben Lagerbewohnern und Personal manchmal auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder Behördenmitarbeiter [...]. Auch die Volksmobilisierungseinheiten [...] sollen häufig für die sexuelle Ausbeutung von Frauen in Vertriebenenlagern verantwortlich sein [...]. Dabei ist zu beachten, dass sich Berichten zufolge die Truppenstärke der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten innerhalb der letzten zwei Jahre verdoppelt hat [...]. Insbesondere Frauen aus von Frauen geführten Haushalten in Binnenvertriebenenlagern sind sexueller Gewalt ausgesetzt, einschließlich Vergewaltigung und sexueller Ausbeutung durch Regierungstruppen und Lagerbewohner. Zudem greifen viele von ihnen auf negative Bewältigungsstrategien wie Sex zum Zwecke des Überlebens und frühe Heirat zurück [...].

Auf Grundlage der aufgeführten Erkenntnisse ist demnach anzunehmen, dass die Klägerin zu Recht befürchten muss, in einem irakischen Flüchtlingslager geschlechtsspezifischer Verfolgung sowohl von Seiten staatlicher als auch nichtstaatlicher Akteure ausgesetzt zu werden. Auch eine gewisse Gefahr einer Entführung und der Ausübung sexueller Gewalt durch Angehörige des sog. "Islamischen Staates" besteht nach wie vor, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie vor der militärischen Niederlage der Terrormiliz [...]. Für die Klägerin tritt als gefahrerhöhender Umstand hinzu, dass sie der Volksgruppe der Yeziden angehört. Die Yeziden waren, wie oben bereits ausgeführt, in ihren traditionellen Siedlungsgebieten des Nordirak seit Sommer 2014 durch den Vormarsch der Terrororganisation "Islamischer Staat" systematischer Verfolgung allein wegen ihres Glaubens ausgesetzt, vor der sie weder hinreichenden Schutz von Seiten des irakischen Staates noch seitens schutzbereiter Organisationen erhielten. [...] Aktuellen Medienberichten ist zu entnehmen, dass die Ressentiments gegen Yeziden im Irak teilweise wieder zunehmen. Im April 2023 verbreiteten Hetzprediger die Falschnachricht, Yeziden hätten in Sindschar eine Moschee angezündet. Im Internet diskutierten muslimische Extremisten Angriffe auf Flüchtlingscamps und drohten mit einem neuen Völkermord [...]. Sexuelle Gewalt gegen Mitglieder der yezidischen Gemeinschaft wird aufgrund der Angst vor Repressalien, der Stigmatisierung, des Fehlens von Diensten und der anhaltenden Sicherheitsbedenken nach wie vor nur in den wenigsten Fällen angezeigt. Die Vertriebenenlager sind insofern Orte mit erhöhtem Risiko [...].

Hieraus folgend steht der Klägerin ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG und war der entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vollumfänglich aufzuheben. [...]