BlueSky

OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 07.10.2024 - 13 ME 137/24 - asyl.net: M32840
https://www.asyl.net/rsdb/m32840
Leitsatz:

Kein Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis bei Ausreise Minderjähriger ohne Zustimmung der Eltern: 

"Bei der Beurteilung, ob ein minderjähriger Ausländer im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund aus dem Bundesgebiet ausreist, sind dem tatsächlichen Handeln des minderjährigen, im Bundesgebiet aufhältigen Ausländers bei der Gestaltung seines Aufenthalts durch das Aufenthaltsbestimmungsrecht seiner Eltern oder seines allein sorgeberechtigten Elternteils nach § 1631 BGB gesetzte rechtliche Grenzen zu berücksichtigen."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: minderjährig, Sorgerecht, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Erlöschen, Aufenthaltserlaubnis,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6, AufenthG § 80, BGB § 1631 Abs. 1
Auszüge:

[...]

I. Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 9. Kammer - vom 15. Juli 2024, mit dem dieses deren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 10. August 2023 erhobenen Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Juli 2023 über die Androhung der Abschiebung in die Türkei oder einen anderen rücknahmebereiten oder -verpflichteten Staat abgelehnt hat, ist begründet und führt zur Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung. [...]

Nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen, wenn keine Abschiebungsverbote vorliegen und der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht voraus. Die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG kann rechtmäßig bereits dann erlassen werden, wenn der Ausländer im Sinne des § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig ist [...].

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts fehlt es hier voraussichtlich an der danach erforderlichen Ausreisepflicht. Nach § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht.

Die Antragstellerin war zuletzt im Besitz einer vom ... 2020 bis zum ... 2021 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG, die am ... 2021 bis zum ... 2023 verlängert wurde. Aufgrund des rechtzeitig mit E-Mail vom ... 2023, jedenfalls aber in der Vorsprache vom ... 2023 durch die Antragstellerin gestellten Verlängerungsantrags, über den die Antragsgegnerin bisher nicht entschieden hat, gilt diese Aufenthaltserlaubnis gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend. Dem Eintritt dieser Fiktionswirkung steht entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und dem folgend des Verwaltungsgerichts auch der Erlöschenstatbestand nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG nicht entgegen.

Die am ... 2005 geborene Antragstellerin trägt mit ihrer Beschwerde insoweit vor, sie sei zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus dem Bundesgebiet minderjährig gewesen. Ihre allein sorgeberechtigte Mutter habe der Abmeldung und dem Fortzug in die Türkei nicht zugestimmt. Deshalb habe ihre Mutter die Abmeldung vom ... 2023, welche sie - die Antragstellerin - alleine vorgenommen habe, am ... 2023 "rückgängig gemacht" und erklärt, dass sie die Abmeldung nicht erlaube. Eine Woche später, am ... 2023, habe sie - die Antragstellerin - sich erneut abgemeldet und sei am selben Tag in die Türkei ausgereist. [...]

Dies zugrunde gelegt, spricht hier zwar einiges dafür, dass die Antragstellerin am 3. Mai 2023 aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund ausreisen wollte. Das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung auch für den Senat nachvollziehbar darauf abgestellt, dass sich die Antragstellerin innerhalb weniger Tage zwei Mal in die Türkei abgemeldet hat, ohne mitzuteilen, ob und wann sie beabsichtigt, in die Bundesrepublik zurückzukommen. Vielmehr hat sie selbst im gerichtlichen Verfahren noch vorgetragen, seinerzeit in die Türkei gereist zu sein, "um dort bei ihrem Vater zu leben", was ersichtlich gegen einen nur vorübergehenden Besuchsaufenthalt spricht.

Es darf allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragstellerin zum Zeitpunkt der beiden Abmeldungen und auch der tatsächlichen Ausreise am 3. Mai 2023 noch minderjährig war und das Aufenthaltsbestimmungsrecht gemäß § 1631 Abs. 1 BGB - ohne dass es insoweit auf die Möglichkeit einer Ummeldung nach § 17 Abs. 3 Satz 1 BMG ankommt - zu diesem Zeitpunkt bei ihrer allein sorgeberechtigten Mutter lag. Auch § 80 AufenthG bestimmt insoweit keine abweichende aufenthaltsrechtliche Handlungsfähigkeit (mehr). Das den Eltern oder dem allein sorgeberechtigten Elternteil als Teil des Personensorgerechts zustehende Aufenthaltsbestimmungsrecht beinhaltet die Festlegung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, des Wohnsitzes und anderer zeitweiliger Aufenthaltsorte. Der Aufenthalt kann auch negativ bestimmt werden [...]. Die allein sorgeberechtigte Mutter der Antragstellerin hatte ihr danach notwendiges Einverständnis mit der Abmeldung und auch der Ausreise aus dem Bundesgebiet nicht nur nicht erklärt, sondern sich der Abmeldung und auch der Ausreise der Antragstellerin aktiv widersetzt, auch wenn sie diese letztlich nicht zu verhindern vermochte.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Ausreise in das Ausland keine rechtsgeschäftliche, sondern eine tatsächliche Handlung ist. Auch berücksichtigt der Senat, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sogar eine (ohne staatliches Zutun) erzwungene Ausreise gegen den Willen des Ausländers (etwa durch Nötigung oder Erpressung) den Verlust des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG zur Folge haben kann [...]. Dies ändert aber nichts daran, dass dem tatsächlichen Handeln des minderjährigen, im Bundesgebiet aufhältigen Ausländers bei der Gestaltung seines Aufenthalts durch das Aufenthaltsbestimmungsrecht seiner Eltern oder seines allein sorgeberechtigten Elternteils rechtliche Grenzen gesetzt sind. Diese rechtlichen Grenzen für die Gestaltung des Aufenthalts sind bei der Beurteilung, ob der minderjährige Ausländer im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund aus dem Bundesgebiet ausreist, zu berücksichtigen [...].

Bei der Minderjährigkeit eines Ausländers und der daraus folgenden gesetzlichen Vertretung durch Sorgeberechtigte, die allein über das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu entscheiden haben, handelt es sich zudem um einen Umstand, der für die Ausländerbehörde ohne weiteres erkennbar ist. Insoweit besteht in einem Fall wie dem hiesigen, in dem sich eine minderjährige Ausländerin ohne Zustimmung ihrer Sorgeberechtigten ins Ausland abmeldet und ausreist, für die Ausländerbehörde vor Annahme des Erlöschenstatbestands nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG die Pflicht zur Nachprüfung, ob der Sorgeberechtigte mit der Abmeldung und auch der Ausreise aus dem Bundesgebiet einverstanden ist. Dieses Einverständnis oder auch eine nachträglich erteilte Genehmigung muss nicht ausdrücklich erklärt werden, sondern kann sich auch anhand der äußeren objektiven Umstände ergeben, etwa, weil der Sorgeberechtigte das Flugticket bezahlt oder selbst mit ausreist. Eine andere Auslegung und Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG würde dazu führen, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht des gesetzlichen Vertreters durch den minderjährigen Ausländer vereitelt werden kann. Denn wenn der Minderjährige ohne Einverständnis des Sorgeberechtigten das Bundesgebiet verlassen und den Erlöschenstatbestand des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG zur Entstehung bringen kann, besteht für den Sorgeberechtigten, der sich legal im Bundesgebiet aufhält, nicht ohne Weiteres die Möglichkeit, sein minderjähriges Kind wieder bei sich aufzunehmen bzw. dessen Aufenthaltsort im Bundesgebiet festzulegen und durchzusetzen.

Es kann vorliegend auch nicht etwa angenommen werden, dass die Antragstellerin ihren Fortzug aus dem Bundesgebiet nach Erreichen der Volljährigkeit am ... 2023 "genehmigt" hat [...]..Für eine dahingehende Willensbildung und -betätigung der Antragstellerin gibt es keine belastbaren Anhaltspunkte. Die Antragstellerin ist zudem bereits am 28. Juni 2023 erneut ins Bundesgebiet eingereist.[...].