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LG Gera

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Zitieren als:
LG Gera, Beschluss vom 19.11.2024 - 7 T 325/24 - asyl.net: M32872
https://www.asyl.net/rsdb/m32872
Leitsatz:

Recht zur Bezeichnung eines Wahlanwalts vor Bestellung eines Pflichtanwalts

Der Fairnessgrundsatz sowie das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG gebieten, dass der Betroffene vor Bestellung eines Pflichtanwalts gem. § 62d AufenthG unter angemessener Frist Gelegenheit eingeräumt wird, einen Wahlanwalt zu benennen. Wird dieses Recht nicht eingeräumt, ist die Haftanordnung rechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Pflichtanwalt, Wahlanwalt
Normen: AufenthG § 62d, GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Mit Schriftsatz vom 19.09.2024 hat der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen die Beschwerde begründet. Er beanstandet im Wesentlichen, dass dem Betroffenen vor dem Anhörungstermin vom 25.07.2024 keine Gelegenheit gegeben worden sei, einen Anwalt selbst auszuwählen, dass das Amtsgericht die angefochtene Entscheidung überraschend auf § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG gestützt habe, obwohl dieser im Haftantrag nicht genannt worden sei, dass die Anhörung des Betroffenen am 25.07.2024 einen Tag zu spät erfolgt sei und dass an der örtlichen Zuständigkeit des Beteiligten Bedenken bestünden. [...]

2.) Die mit Beschluss des Amtsgerichts Rudolstadt vom 25.07.2024 angeordnete und vollzogene Abschiebungshaft war rechtswidrig und hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

Die Rechtswidrigkeit folgt daraus, dass das Amtsgericht vor Erlass der Haftanordnung dem Betroffenen nicht die Gelegenheit eingeräumt hat, selbst einen Anwalt auszuwählen. Damit hat das Amtsgericht das gem. Art. 103 Abs. 1 GG zu wahrende rechtliche Gehör des Betroffenen verletzt.

a) Nach § 62d AufenthG bestellt das Gericht zur Entscheidung über die Anordnung von Abschiebungshaft nach § 62 AufenthG und Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG dem Betroffenen, der noch keinen anwaltlichen Vertreter hat, von Amts wegen für die Dauer des Verfahrens einen anwaltlichen Vertreter als Bevollmächtigten. [...]

Zu den vorgenannten Grundsätzen gehört das Erfordernis, den Beschuldigten vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen (§ 142 Abs. 5 StPO [...]. Die Anhörungspflicht ist Ausfluss des Fairnessgrundsatzes und des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), von der nur in seltenen Ausnahmefällen abgewichen werden kann. Kennt der Beschuldigte sein Bezeichnungsrecht nicht oder wird ihm keine Gelegenheit eingeräumt, selbst aktiv zu werden, kann er den ihm zustehenden verfassungsrechtlichen Anspruch nicht durchsetzen [...]. Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert es jedem Betroffenen, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen [...].

Nach § 142 Abs. 5 StPO muss dem Betroffenen eine angemessene Frist zur Bezeichnung eines Wahlanwalts eingeräumt werden. Die Angemessenheit der Frist bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Wenn - wie vorliegend - besondere Eilbedürftigkeit aufgrund einer Vorführung besteht, wird eine kurze Frist, ggf. nur eine kurze Bedenkzeit einzuräumen sein. [...]