Drohender Einsatz im russischen Angriffskrieg für Grundwehrdienstpflichtige:
"Einem grundwehrdienstpflichtigen russischen Staatsangehörigen droht bei seiner Rückkehr nach Russland die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen Behandlung, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit seiner zwangsweisen Rekrutierung zum Kriegseinsatz in der Ukraine zu rechnen ist (entgegen OVG Berlin-Brandenburg, U. v. 22.08.2024 12 B 17/23 -, juris, Rdnr. 44 ff.)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin, die sich auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22.08.2024 (12 B 17/23) beruft, hält das Gericht an seiner Einschätzung fest, dass Grundwehrdienstleistenden in der Russischen Föderation derzeit droht, sich mittels erzwungener Vertragsabschlüsse als Vertragssoldaten zu verpflichten. Sie gelten dann offiziell nicht mehr als Wehrpflichtige, sondern Freiwillige und werden im Ukraine-Krieg eingesetzt.
Die Ansicht des OVG Berlin-Brandenburg in der o. g. Entscheidung diese Einschätzung beruhe auf keiner ausreichenden Erkenntnislage teilt das Gericht nicht. Eine nahezu 100-prozentige Gewissheit, dass Grundwehrpflichtige in Russischen zu einer Unterzeichnung eines Vertrages gezwungen werden, ist derzeit nicht zu erzielen. In der Russischen Föderation gibt es keine freie Presse und keine unabhängige Berichterstattung über die Behandlung von Grundwehrdienstleistenden in Russischen Föderation. Entsprechenden Berichten der russischen Regierung über die Behandlung und den Einsatz von Grundwehrpflichtigen kann grundsätzlich wenig Glauben geschenkt werden.
Die Quellen, deren Aussagekraft das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in Zweifel zieht, werden von anderen sach- und fachkundigen Stellen wiedergegeben, ohne dass sie die inhaltliche Aussage der Quellen in Frage stellen. So schreibt das Auswärtige in seinem aktuellen Lagebericht über die Russische Föderation, es gebe Medienberichte über die Nötigung von Grundwehrdienstleistenden zum Abschluss eines Vertrages über die "freiwillige" Teilnahme am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, auf dessen Grundlage die Grundwehrdienstleistenden nach Ableistung von mindestens drei Monaten Grundwehrdienst dann in die Ukraine entsandt werden konnten [...]. Dafür, dass das Auswärtige Amt sich auf unsichere Quellen stützt, hat das Gericht keine Anhaltspunkte. Auch nach der Einschätzung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich wird "auf Grundwehrdiener" Druck ausgeübt, einen Vertrag zu unterzeichnen" [...]. Auch dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vermag das Gericht keine Berufung auf unsichere Quellen unterstellen.
Das Gericht sieht es nicht als ausreichend an, allein die Unsicherheit und Verallgemeinerungsfähigkeit einzelner Primärquellen in Frage zu stellen, deshalb davon auszugehen, die Erkenntnislage zur Zwangsrekrutierung gebe zu wenig her, um die volle richterliche Überzeugung von einem solchen Hergang zu gewinnen und deshalb eine zwangsweise Rekrutierung von Grundwehrdienstpflichtigen als nicht beachtlich wahrscheinlich anzusehen. Vielmehr müssen diese Quellen im Gesamtzusammenhang mit der politischen und militärischen Lage der Russischen Föderation gesehen werden.
Die russischen Streitkräfte haben derzeit einen enormen Personalbedarf. Seit dem Beginn der Vollinvasion in der Ukraine haben die reguläre russische Armee sowie die anderen beteiligten Kräfte hohe Verluste erlitten. So konnten "Mediazona" und "BBC Russian Service" die Namen von 54.185 Toten ermitteln, sie gehen davon aus, dass die reale Opferzahl doppelt so hoch ist. Schätzungen westlicher Geheimdienste zufolge liegen die Verluste bei ca. 500.000 Personen, sie beziehen dabei auch Verwundete und Gefangene mit ein. Damit wären die personellen Verluste bereits mehr als zweieinhalb Mal so hoch wie die Gesamtzahl der im Februar 2022 an der Vollinvasion beteiligten Soldaten von ca. 190.000 [...]. Die russische Regierung versucht, diese Verluste vor allem durch die Rekrutierung von Vertragssoldaten und von Kämpfern in Freiwilligenformationen auszugleichen. Denn die Teilmobilisierung vom September 2022 war unpopulär und mit innenpolitischen Risiken für den Kreml verbunden [...]. Gezielt werden Wehrpflichtige, Gefängnisinsassen und Ausländer angeworben. Neben Anreizen finanzieller oder anderer Art (Straferlass, erleichterter Einbürgerung) spielen bei der Rekrutierung von Vertragssoldaten auch Täuschung und Zwang eine Rolle. So kann auf einen Wehrpflichtigen leicht Druck ausgeübt werden, einen Vertrag zu unterzeichnen, schließlich sind sie heimatfern stationiert und im Rahmen der "Großväter-Herrschaft" (dedowschtschina) der systematischen Gängelung durch ihre Vorgesetzten ausgesetzt [...].
Die Dedowschtschina bedeutet im Russischen so viel wie "Die Herrschaft der Großväter" ("Deduschka": Großvater). Dabei handelt es sich um eine durch Hierarchie geprägte Praktik, die das systematische Schikanieren jüngerer wehrpflichtiger Soldaten durch Dienstältere (Offiziere oder Vorgesetzte) beschreibt [...]. Einem solchem System sind auch gerade junge, gesunde und arbeitsfähige Männer wehrlos ausgeliefert. In diesem Sinne hat das Verwaltungsgericht Berlin ganz offensichtlich den Begriff "vulnerabel" gebraucht. Entgegen der Ansicht des OVG Berlin-Brandenburg [...] können sich auch "robustere Persönlichkeiten, die in körperlichen Auseinandersetzungen, ihren Mann zu stehen wissen" nicht so ohne weiteres ihren Vorgesetzten, die sie zur Unterzeichnung eines Vertrages zwingen wollen, widersetzen. Für derartige Persönlichkeiten hat die russische Armee Strafbataillone eingerichtet.
Entgegen der Ansicht des OVG Berlin-Brandenburg scheint die russische Regierung die zwangsweise Rekrutierung von Vertragssoldaten auch als sinnvoll anzusehen. Es trifft zwar zu, dass zwangsweise rekrutierte Soldaten nur sehr eingeschränkt für einen Kampfeinsatz motiviert sind. Das gleiche gilt aber auch für die von der unpopulären Teilmobilisierung betroffenen Soldaten, ohne dass dies die russische Regierung von der Teilmobilisierung und deren gewaltsamen Durchsetzung abgehalten hätte. Generell ist die "Kampfbereitschaft" bei den im Ukraine-Krieg eingesetzten russischen Einheiten recht niedrig. Das versucht die russische Armee aber mit entsprechenden disziplinarischen Maßnahmen auszugleichen. Sehr wirkungsvoll ist da die Einrichtung von Strafbataillonen, welche die russische Armee bevorzugt gegen ukrainische Stellungen einsetzt. Nach der Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums sind spätestens seit dem Frühjahr 2023 aus dem sog. "Sturm-Z" de facto Strafbataillone geworden, die mit Sträflingen sowie regulären Soldaten, die Disziplinarverstöße begangen haben, besetzt sind [...]. Aus diesem Grunde erfüllt aus der Sicht der russischen Regierung auch die zwangsweise Rekrutierung von Soldaten ihren militärischen Zweck. [...]