BlueSky

VG Potsdam

Merkliste
Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 28.06.2024 - 16 L 372/24 A - asyl.net: M32950
https://www.asyl.net/rsdb/m32950
Leitsatz:

Eilrechtsschutz im Zweitantragsverfahren wegen bisher nicht vorgetragener Gründe:

Neue Elemente oder Erkenntnisse für die Aufnahme eines Zweitverfahrens können auch solche sein, die bereits vor Abschluss des Erstverfahrens existierten, aber von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurden. Die Person muss ohne grobes Verschulden außerstande gewesen sein, den Grund für das Wiederaufgreifen des Erstverfahrens geltend zu machen. Im vorliegenden Fall hatte der Kläger seine Homosexualität aus Angst, Unwissenheit und Scham in Litauen nicht offenbart.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, homosexuell, Zweitantrag, Abschiebungsandrohung
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a, AsylG § 26a, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [...] umfasst die in Art. 40 Abs. 2 und 3 AsylVf-RL 2013 enthaltene und mit Art. 32 Abs. 4 AsylVf-RL 2005 inhaltsgleiche Wendung "neue Elemente oder Erkenntnisse", die "zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind" sowohl Elemente oder Erkenntnisse, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, als auch Elemente oder Erkenntnisse, die bereits vor Abschluss dieses Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller nicht geltend gemacht wurden. [...]

Daran gemessen hat der Antragsteller in Form seiner Homosexualität einen Umstand vorgetragen, der bereits vor Abschluss des Verfahrens in Litauen existierte, aber von ihm dort nicht geltend gemacht worden ist. [...]

Nach Auffassung des Gerichts spricht Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller tatsächlich homosexuell ist und dies auch auslebt. Beim Bundesamt machte er bereits zahlreiche Angaben zu seiner homosexuellen Identitätsfindung und der Entwicklung seiner sexuellen Orientierung. So konnte er seine ersten beiden sexuellen Beziehungen unter Angabe der damit einhergehenden Komplikationen und seine Gefühlslage schildern. Im Einzelnen führte er aus, dass er im Alter von 15 Jahren festgestellt habe, dass er eine Zuneigung zu Männern verspüre. In der Schule habe er eine ca. vierjährige Liebesbeziehung mit einem zwei Jahre älteren Mann namens ... gehabt, mit dem er sich regelmäßig unter dem Vorwand, gemeinsam lernen zu wollen, zum Geschlechtsverkehr getroffen habe. Anschließend habe er eine ebenfalls heimliche, ca. zweijährige Sexbeziehung mit einem wesentlich älteren ... namens ... gehabt, der sich jedoch anschließend von ihm getrennt habe. Außerdem habe er über Facebook nach einem neuen männlichen Partner gesucht, sei jedoch teilweise aus Mangel an Vertrauen und zum Teil aufgrund zu großer Entfernung keine weitere Beziehung eingegangen. Des Weiteren hat der Antragsteller durch Bildmaterial und Chatauszüge unterlegte Angaben zu einer nach seiner Ankunft in Deutschland geführten sexuellen Beziehung mit einem Mann namens ... gemacht und aufgezeigt, wie er seine Homosexualität durch den Besuch von Clubs und Bars für Homosexuelle auslebt. [...]

Mit seinem Vorbringen ist der Kläger auch nicht gemäß § 71 a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 2 VwVfG präkludiert. Hiernach muss der Antragsteller ohne grobes Verschulden außerstande gewesen sein, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Asylverfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Diese Regelung geht auf Art. 40 Abs. 4 RL 2013/32/EU zurück. Von der dort eingeräumten Möglichkeit hat der nationale Gesetzgeber mit der ausdrücklichen Verweisung in § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG auf § 51 Abs. 2 VwVfG in unionsrechtskonformer Weise Gebrauch gemacht [...].

Unter Berücksichtigung dieses strengen Maßstabs hat der Antragsteller hinreichend dargelegt, dass er in Litauen aus Angst, Unwissenheit und Scham und damit ohne grobes Verschulden daran gehindert war, seine Einwände vorzubringen. Hierzu hat er in seiner Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags am 2. Dezember 2022 im Einzelnen angegeben, dass sich der Aufenthalt in dem Flüchtlingslager in Litauen wie ein Gefängnisaufenthalt angefühlt habe, die Versorgung sehr schlecht gewesen sei, er menschenunwürdige Behandlung erfahren habe, er im Rahmen der Asylanhörung nicht hinreichend rechtliches Gehör erhalten habe und aufgrund dieser Umstände an psychischen Problemen gelitten habe. Ergänzend hat er in seiner Anhörung am 9. April 2024 angegeben, dass er Angst gehabt habe, in Litauen vorzutragen, dass er homosexuell sei. Im Irak sei er damit aufgewachsen, dass Homosexualität verboten sei und gesellschaftlich geächtet und sogar mit dem Tod bestraft werde. Er sei davon ausgegangen, dass Homosexualität auch in Europa nicht erlaubt sei. Erst in Deutschland habe er im Laufe der Zeit realisiert, dass Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert werde und er keine Befürchtung haben müsse, diese zu offenbaren.

Zu Gunsten des Antragstellers ist in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass es die Mitgliedstaaten zwar nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 als Pflicht des Antragstellers betrachten können, "so schnell wie möglich" alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, kann jedoch allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben hat, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig ist (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Dezember 2014 - C-148/13 bis C-150/13 - juris, Rn. 68-71). Auf § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 2 VwVfG übertragen dürfte einem Asylsuchenden grobes Verschulden nicht allein deshalb zur Last gelegt werden dürfen, weil er seine Homosexualität erstmals in einem Zweitantragsverfahrens offenbart hat. [...]