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VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 21.11.2024 - 6 K 899/22.WI.A - asyl.net: M33007
https://www.asyl.net/rsdb/m33007
Leitsatz:

16 Jahre Bearbeitungszeit für Widerrufsverfahren ist nicht zu beanstanden:

1. Den nach der alten Rechtslage bestehenden Meinungsstreit, ob der Erwerb der deutschen Staats­angehörigkeit zum Erlöschen der Asylanerkennung oder zu deren Erledigung auf andere Weise führt, hat der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 72 AsylG durch Gesetz vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2817) dahingehend entschieden, dass es sich um einen Erlöschenstatbestand handelt.

2. Auch nach der ersatzlosen Streichung der Regelüberprüfung der Asylanerkennung nach drei Jahren durch das Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2817) findet die Jahresfrist des § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG auf den Widerruf von Asylanerkennungen keine Anwendung.

3. Die Befugnis zum Widerruf der Asylanerkennung unterliegt der Verwirkung, die neben einem Zeit­moment auch ein Umstandsmoment erfordert.

4. Der Verweis in § 60 Abs. 5 AufenthG auf die EMRK umfasst lediglich "zielstaatsbezogene" Abschiebungshindernisse. Eine unionsrechtskonforme Auslegung dahingehend, dass auch im Inland bestehende familiäre Beziehungen zu berücksichtigen seien, ist nicht geboten.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Familienschutz, Einbürgerung, Widerrufsverfahren, Widerrufsfrist
Normen: AsylG § 73a, VwVfG § 49 Abs. 2, VwVfG § 48 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Aufhebung des Bescheids des ... (im Folgenden: Bundesamt) vom 7. Juli 2022, mit dem seine Anerkennung als Asylberechtigter widerrufen wurde [...].

Er reiste bereits am … 1990 gemeinsam mit seiner Mutter in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte [...] einen Asylantrag. Nachdem der Asylantrag [...] zunächst abgelehnt worden war, sprach das Verwaltungsgericht Wiesbaden [...] die Verpflichtung aus, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen. Die Mutter des Klägers habe aufgrund der Asylantragstellung in Deutschland und ihrer Aktivitäten [...] bei einer Rückkehr nach Iran politische Verfolgung zu befürchten. Der Kläger sei nach § 26 des Asylverfahrensgesetzes [...] im Wege des Familienasyls als Asylberechtigter anzuerkennen.

Nachdem der Kläger wiederholt straffällig geworden war, bat die Ausländerbehörde der Stadt ... das Bundesamt mit Schreiben vom 17. August 2006 um Prüfung eines Widerrufs der Asylanerkennung. [...].

Mit Schreiben vom 26. September 2007 informierte das Bundesamt den Kläger über die Einleitung des Widerrufsverfahrens [...].

Mit Schreiben vom 14. September 2021 lud das Bundesamt den Kläger zur erkennungsdienstlichen Behandlung und Befragung [...].

Mit Schreiben vom 19. Januar 2022 teilte das Bundesamt dem Bevollmächtigten des Klägers mit, dass der Widerruf der Asylberechtigung beabsichtigt sei, und gab Gelegenheit zur Stellungnahme. [...]

Mit Bescheid vom 7. Juli 2022 widerrief das Bundesamt die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter (Nr. 1), erkannte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass die Anerkennung als Asylberechtigter nach § 73 Abs. 2b Satz 2 Asylgesetz zu widerrufen sei, da die Anerkennung der stammberechtigten Mutter durch deren Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft erloschen sei. [...]

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist unbegründet. [...]

Der Widerruf der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter ist rechtmäßig.

1. Die Voraussetzungen des § 73a Satz 2 AsylG in der im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Fassung [...] liegen vor.

Die Asylberechtigung der Mutter ist durch deren Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 72 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG erloschen. Den nach der alten Rechtslage bestehenden Meinungsstreit, ob der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zum Erlöschen der Asylanerkennung oder zu deren Erledigung auf andere Weise führt [...] dahingehend entschieden, dass es sich um einen Erlöschenstatbestand handelt. Auch nach alter Rechtslage kam es im Übrigen nicht auf die Einordnung als Erlöschens- oder sonstiger Erledigungstatbestand an, da die Asylanerkennung in keinem Fall fortbestand [...].

2. Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten ist die Norm des § 73a AsylG auch nicht gegen ihren klaren Wortlaut dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass der Widerruf des Familienasyls im Fall des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch die Stammberechtigte oder den Stammberechtigten nicht erfolgen darf. Soweit der Klägerbevollmächtigte vorgetragen hat, dass die Institution des Familienasyls sonst entwertet würde und sich eine den Zielen und Zwecken des Gesetzes konträr zuwiderlaufende Lösung ergäbe, ist dem entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber die Vorschrift erst kürzlich durch das Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2817) von § 73 Abs. 2b AsylG in § 73a Satz 2 AsylG überführt hat, ohne den Wortlaut zu verändern, und damit zu erkennen gegeben hat, an der Regelung festhalten zu wollen. [...] Es ist verfassungsrechtlich schon nicht geboten, Familienangehörigen von Asylberechtigten ohne den Nachweis eigener Verfolgungsgründe eine eigene Asylberechtigung oder eine damit vergleichbare Rechtsstellung einzuräumen. Umso weniger muss von Verfassungs wegen Familienangehörigen die auf der Grundlage des Familienasyls zuerkannte Asylberechtigung nach Wegfall der Stammberechtigung erhalten werden, wenn sie nicht aus anderen Gründen als Asylberechtigte anerkannt werden können [...].

3. Schließlich führt auch die Tatsache, dass die Einbürgerung der Mutter des Klägers bereits im Jahr 2001 erfolgte, das Widerrufsverfahren im Jahr 2006 eingeleitet wurde und der Bescheid erst im Jahr 2022 erging, nicht zur Rechtswidrigkeit des Widerrufs der Asylberechtigung.

Die im Verwaltungsverfahrensgesetz geregelte Jahresfrist für den Widerruf von Verwaltungsakten (§ 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG) findet auf den Widerruf von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen keine Anwendung [...]. Der Gesetzgeber hat mit dem Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 [...] durch die Einführung der Dreijahresfrist für die Regelüberprüfung in § 73 Abs. 2a AsylG einen bestimmten, auf die Besonderheiten des Asyl- und Ausländerrechts abgestimmten zeitlichen Rahmen vorgegeben, der nach dem Sinn und Zweck der Regelung erkennbar abschließend ist und nicht durch weitere (allgemeine) Fristen verengt werden soll [...]. Ungeachtet der Tatsache, dass sowohl im Zeitpunkt der Kenntniserlangung vom Wegfall der Voraussetzungen für die Asylberechtigung durch das Bundesamt als auch im Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids die Dreijahresfrist für die Regelüberprüfung noch galt, ist das Gericht davon überzeugt, dass auch nach der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Rechtslage die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG keine Anwendung findet [...]. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren vom 21. Dezember 2022 [...] die §§ 72 ff. AsylG grundlegend neu strukturiert und dabei in § 73b AsylG Verfahrensvorschriften für den Widerruf und die Rücknahme aller Schutzformen zusammengefasst [...]. Dabei wurde die Regelüberprüfung ersatzlos gestrichen, um das Bundesamt zu entlasten [...]. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass der Gesetzgeber den Rückgriff auf die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG ermöglichen wollte. Vielmehr regelt § 73 Abs. 1 AsylG, dass das Bundesamt den Widerruf oder die Rücknahme "prüft", sobald es von entsprechenden Umständen oder Tatsachen Kenntnis erlangt. Dafür, dass der Gesetzgeber durch die Neuregelung das abschließende Regelungssystem aufbrechen und dem Bundesamt eine bisher nicht vorgesehene Entscheidungsfrist auferlegen wollte, finden sich weder im Wortlaut der Norm, noch in der Systematik des Gesetzes oder in der Gesetzesbegründung Anhaltspunkte. Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom 5. Juni 2012 [...] ausgeführt, dass anerkannte Asylberechtigte oder Flüchtlinge nach Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen und Vorliegen materieller Erlöschens- oder Widerrufsgründe auch völker- oder unionsrechtlich grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen auf Aufrechterhaltung des formellen Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus genießen, weshalb es an einem Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG fehlt, der ebenfalls Ausdruck des Vertrauensschutzes ist.

Das Bundesamt hat die Befugnis zum Widerruf auch nicht verwirkt. Die Widerrufsbefugnis unterliegt der Verwirkung, wobei diese neben dem bloßen Zeitablauf zusätzlich das Eintreten von Umständen voraussetzt, aus denen die oder der die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kennende Begünstigte berechtigterweise den Schluss ziehen darf, der Verwaltungsakt werde nicht mehr aufgehoben, obwohl die Behörde dessen Aufhebbarkeit erkannt hat. Ferner muss die oder der Begünstigte tatsächlich darauf vertraut haben, dass die Aufhebungsbefugnis nicht mehr ausgeübt wird, und dieses Vertrauen in einer Weise betätigt haben, dass ihr oder ihm mit der sodann gleichwohl erfolgten Aufhebung ein unzumutbarer Nachteil entstünde [...].

Vorliegend ist zwar zwischen Kenntniserlangung des Bundesamts vom Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen im Jahr 2006 und Erlass des Widerrufsbescheids im Jahr 2022 ein erheblicher Zeitraum von 16 Jahren vergangen. Trotz dieses Zeitmoments fehlt es jedoch an einem Umstandsmoment. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 19. Oktober 2007 schriftlich zu dem beabsichtigten Widerruf Stellung genommen hatte, blieb das Verfahren offenbar bis zum Jahr 2021 unbearbeitet. Indes ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass in dieser Zeit Umstände eingetreten wären, aus denen der Kläger hätte schließen können, dass der Widerruf nicht mehr erfolgen würde. Auch ist nicht erkennbar, dass sich der Kläger im Vertrauen auf den Fortbestand der Asylberechtigung in einer Weise verhalten hätte, dass ihm durch den Widerruf ein unzumutbarer Nachteil entstünde. [...]