Vereinbarkeit von Leistungseinschränkungen mit dem Unionsrecht:
Das Bundessozialgericht legt dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Leistungseinschränkungen nach § 1a Abs. 7 AsylbLG (nunmehr in der neuen Fassung § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG) mit Unionsrecht (Art. 17 Abs 2 und Abs 5 Richtlinie 2013/33/EU und Art 20 Abs 1 Satz 1 Buchst c Richtlinie 2013/33/EU) vereinbar sind, ob also Leistungen für Personen, deren Asylantrag wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates als unzulässig abgelehnt wurde, auf Sachleistungen für Ernährung, Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege beschränkt werden können.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden [...] folgende Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2013/33/EU [...] in Verbindung mit der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [...] zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Deckt eine Regelung eines Mitgliedstaats, die Antragstellern auf internationalen Schutz abhängig von ihrem Status als vollziehbar Ausreisepflichtige innerhalb der Überstellungsfrist nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ausschließlich einen Anspruch auf Unterkunft, Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege und Behandlung im Krankheitsfall sowie nach den Umständen im Einzelfall Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts gewährt, das in Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Richtlinie 2013/33/EU beschriebene Mindestniveau ab?
Sollte Frage 1 verneint werden:
2. a) Ist Art. 20 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c Richtlinie 2013/33/EU in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl L 180 vom 29.6.2013, S 60) dahin auszulegen, dass von einem Folgeantrag auch Sachverhalte erfasst werden, in denen der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und darauf gestützt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag als unzulässig nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 abgelehnt und die Abschiebung angeordnet hat?
b) Kommt es für die Frage, ob in dieser Konstellation ein Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q Richtlinie 2013/32/EU vorliegt, auf den Zeitpunkt einer Rücknahme oder den Zeitpunkt einer Entscheidung des anderen Mitgliedstaats nach Art. 27 oder Art. 28 Richtlinie 2013/32/EU an?
c) Ist Art. 20 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 20 Abs. 5 und 6 Richtlinie 2013/33/EU in Verbindung mit der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass eine Einschränkung der im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen auf Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege und Leistungen im Fall der Krankheit sowie - nach Maßgabe des Einzelfalls - an Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts zulässig ist? [...]
1I. Im Streit ist ein Anspruch eines in Deutschland lebenden Antragstellers auf internationalen Schutz auf höhere materielle Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für die Zeit vom 1.1.2022 bis 22.2.2022. In dieser Zeit sollte er auf Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen anderen Mitgliedstaat überstellt werden. [...]
4Ziel der Klage von ... ist es, vom Landkreis höhere materielle Leistungen und dabei in erster Linie Geldleistungen zur Deckung notwendiger persönlicher Bedarfe zu erhalten. Die Klage hat das Sozialgericht Würzburg abgewiesen [...]; das Bayerische Landessozialgericht hat der Klage stattgegeben, weil nach seiner Auffassung die Einschränkung nach § 1a Abs. 7 Asylbewerberleistungsgesetz ein pflichtwidriges Verhalten fordere, das nicht vorliege [...].
15 Die Erfüllung von subjektiven Tatbestandsmerkmalen durch den Antragsteller ist nicht weitere Voraussetzung; denn die Einschränkung von Leistungen auf Grundlage von § 1a Abs. 7 Asylbewerberleistungsgesetz ist nicht als Sanktion für die Nichtausreise zu verstehen. Die Einschränkung fordert deshalb - entgegen der Auffassung des Bayerischen Landessozialgerichts als Vorinstanz - kein Vertretenmüssen des Antragstellers, und zwar weder im Hinblick auf die Einreise noch auf die Nichtausreise im Anschluss an die Entscheidung des Bundesamtes im Verfahren nach der Dublin-III-VO.
16 Als Rechtsfolge entfällt für ... nach einfachem nationalen Recht für die Zeit vom 1.1.2022 bis 22.2.2022 der Anspruch auf Grundleistungen (§ 3 Asylbewerberleistungsgesetz) zu einem Teil und der Anspruch auf sonstige Leistungen nach den Verhältnissen im Einzelfall (§ 6 Asylbewerberleistungsgesetz) ganz, weil im streitigen Zeitraum die Überstellungsfrist nach der Dublin-III-VO läuft. Er erhält in der Einrichtung, in der er lebt, nur Sachleistungen, die seine Bedürfnisse nach Ernährung, Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege abdecken. Leistungen für Kleidung und für Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts erhält er auf Grundlage der Entscheidung des Landkreises im vorliegenden Einzelfall nicht, wogegen er auch nichts vorbringt. Daneben erhält er im Krankheitsfall Leistungen der Krankenhilfe nach § 4 Asylbewerberleistungsgesetz. Die in § 3 Abs. 1 Satz 2 Asylbewerberleistungsgesetz beschriebenen Leistungen zur Deckung notwendiger persönlicher Bedarfe entfallen dagegen ganz.
17 [...] Dem Senat stellt sich deshalb die Frage nach der Vereinbarkeit der Regelungen mit Europäischem Recht, insbesondere ob das im nationalen Recht vorgesehene Leistungsniveau für Antragsteller während des Laufs der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-VO den Anforderungen des Art. 17 Abs. 2 und 5 Aufnahmerichtlinie genügt bzw. ein Anwendungsfall von Art. 20 Aufnahmerichtlinie vorliegt. [...]
19 Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich, dass die finanzielle Unterstützung für einen Lebensstandard ausreichen muss, der die Gesundheit und den Lebensunterhalt der Antragsteller gewährleistet (EuGH vom 27.2.2014 - C-79/13 - RdNr. 37 zu den materiellen Aufnahmebedingungen nach Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2003/9/EG). Dabei ist die Wahrung der Menschenwürde uneingeschränkt zu gewährleisten (Art. 1 der Charta der Grundrechte; vgl. 35. Erwägungsgrund zur Aufnahmerichtlinie). Insoweit verlangt die Achtung der Menschenwürde im Sinne von Art. 1 der Charta der Grundrechte, dass der Betroffene nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH vom 12.11.2019 - C-233/18 - RdNr. 46 unter Verweis auf EuGH vom 19.3.2019 - C-163/17). Jedenfalls müssen - auch im Falle einer Sanktion - die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen Unterkunft, Verpflegung und Kleidung jederzeit gewährleistet sein (vgl. EuGH vom 12.11.2019 - C-233/18 - RdNr. 56).
20 Die Entscheidung des EuGH vom 12.11.2019 - C-233/18 - ist zu Sanktionen im Sinne von Art. 20 Aufnahmerichtlinie ergangen. Nicht geklärt durch die Rechtsprechung des EuGH ist bisher, ob ein angemessener Lebensstandard im Sinne des Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahmerichtlinie gegenüber dem Mindestniveau nach Art. 20 Aufnahmerichtlinie abweichende (weitergehende) Bedürfnisse gewährleistet. [...]
21 Dabei stellt sich dem Senat auch die Frage, ob Art. 17 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative Aufnahmerichtlinie es erlaubt, bei einem gegenüber Inländern abgesenkten Leistungsniveau noch eine weitere Differenzierung für Leistungen an Antragsteller abhängig von ihrer voraussichtlichen, nur kurzfristigen Aufenthaltsdauer bzw. ihrem Status als vollziehbar Ausreisepflichtige vorzunehmen. Damit wäre es dem Mitgliedstaat möglich, Antragstellern innerhalb der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-VO lediglich das in Frage 1 beschriebene Niveau längstens für sechs Monate zu gewähren, während andere Antragsteller höhere Leistungen - wenn auch gegenüber Inländern abgesenkte Leistungen - erhielten. [...]
27Für den Fall, dass Art. 20 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c Aufnahmerichtlinie in der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Konstellation Anwendung findet, geht der Senat davon aus, dass eine Einschränkung auf Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege und Leistungen im Fall der Krankheit sowie - nach Maßgabe des Einzelfalls - an Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts den Anforderungen des Art. 20 Abs. 5 und Abs. 6 Aufnahmerichtlinie genügt. Zu dieser Frage hat der EuGH außerhalb der Sanktionsregelung in Art. 20 Abs. 3 Aufnahmerichtlinie noch nicht Stellung genommen. Dabei ist für die Bewertung der Einschränkung im Anschluss an einen Folgeantrag aus Sicht des Senats zu berücksichtigen, dass der Einzelne durch eine freiwillige Ausreise, die ihm nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zumutbar wäre, den Zeitraum der Einschränkung erheblich verkürzen kann. [...]