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VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 16.09.2024 - 11 B 12/24 - asyl.net: M33024
https://www.asyl.net/rsdb/m33024
Leitsatz:

Außergewöhnliche Härte für Vater von Kleinkind:

1. Der Vater eines Kleinkinds, der mit der Kindsmutter zusammenlebt und sich nachweislich um sein Kind kümmert, kann diese Lebenshilfe nur in Deutschland erbringen. Denn die Kindesmutter hat ein weiteres Kind von vier Jahren mit deutscher Staatsangehörigkeit. Eine Übersiedlung der Familie in das Herkunftsland wäre daher nur dann zumutbar, wenn dadurch eine spätere Reintegration in die Lebensverhältnisse in Deutschland nicht unmöglich oder wesentlich erschwert wäre. Dies ist hier jedoch anzunehmen, da aufgrund des Alters des Kindes nicht sichergestellt ist, dass es bis zur Einschulung Deutschkenntnisse auf muttersprachlichem Niveau erwerben kann.

2. Das Visumsverfahren muss nicht nachgeholt werden, weil schon nicht sicher ist, ob die Auslandsvertretung das Visum erteilen würde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: außergewöhnliche Härte, Zumutbarkeit, Visumsverfahren, Eltern-Kind-Verhältnis,
Normen: AufenthG § 36, AufenthG § 5, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

11 Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und die Unzumutbarkeit eines Nachholens des Visumverfahrens aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG glaubhaft gemacht [...].

14 Der Begriff der außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass der jeweils schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. In einem solchen Fall erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistands- und Betreuungsgemeinschaft, die die gleichzeitige Anwesenheit der Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland erfordert [...].

16 Nach diesen Maßgaben ist in dem vorliegenden Einzelfall der Familiennachzug des Antragstellers zu seinem Kind in die Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderlich. Der Sohn des Antragstellers ist 17 Monate alt. Er bedarf demzufolge unzweifelhaft der elterlichen Fürsorge und zwar der Fürsorge von Mutter und Vater. Denn bei einer Vater-Kind-Beziehung – wie der vorliegenden – ist zu berücksichtigen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern regelmäßig eine eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes hat [...].

17 Die Lebenshilfe für den Sohn kann zumutbarer Weise ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland erbracht werden. Es ist den weiteren Mitgliedern des Familienverbundes nicht zumutbar, den Antragsteller nach Nigeria zu begleiten und die familiäre Lebensgemeinschaft dort fortzusetzen. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass die Mutter des Sohnes des Antragstellers zugleich die Mutter eines 4 Jahre alten Kindes mit deutscher Staatsangehörigkeit ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es auch einem deutschen Staatsangehörigen grundsätzlich zumutbar sein kann [...], gemeinsam mit seinen weiteren Familienangehörigen in das Ausland überzusiedeln, gilt dies jedenfalls nur dann, wenn hierdurch eine spätere Reintegration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland nicht unmöglich oder wesentlich erschwert würde [...]. Letzteres ist vorliegend schon deswegen anzunehmen, weil das deutsche Kind der Lebensgefährtin des Antragstellers noch nicht einmal schulpflichtig ist und seine (Re-)Integrationsmöglichkeiten, mangels hinreichend existentem Bildungsfundament, maßgeblich von der Fortsetzung seiner Sozialisation in der Bundesrepublik Deutschland abhängen, zumal es nur über außerhalb der vorgenannten familiären Gemeinschaft stehende Dritte Deutschkenntnisse auf muttersprachlichem Niveau erwerben und erhalten könnte. Dass dies in Nigeria sichergestellt wäre, ist nicht ersichtlich. Ist es dem Kind deutscher Staatsangehörigkeit somit nicht zumutbar, die Bundesrepublik zu verlassen, würde ein Nachzug des Sohnes des Antragstellers nach Nigeria entweder bedeuten, dass er sich von seiner Mutter trennen müsste oder dass diese sich von ihrem minderjährigen Kind deutscher Staatsangehörigkeit trennen müsste. Keine dieser Alternativen kann den jeweils Betroffenen vor dem Hintergrund des Verfassungs- und Konventionsrechts in Gestalt von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK rechtlich angesonnen werden. Das Recht des deutschen Kindes und der Schutz jeder einzelnen der dargestellten familiären Beziehungen, die sich zu einer unauflösbaren Kette zusammenfügen, führen deshalb dazu, dass die Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn nicht ohne dessen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland möglich ist [...].

18 Ferner liegen auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG vor bzw. stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Dies gilt zuvörderst hinsichtlich der in der Regel erforderlichen Sicherung des Lebensunterhalts (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Ob dieser angesichts des Gehalts des Antragstellers von rund 1.800 Euro netto (vgl. die Gehaltsabrechnungen Bl. 18 ff. d. A.) schon gesichert ist, kann vorliegend offenbleiben. Ein Ausnahmefall von dieser Regelerteilungsvoraussetzung liegt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug geboten ist, z. B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist [...]. Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend – wie dargelegt – gegeben, weswegen von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung ausnahmsweise abzusehen ist. Selbst wenn man im Übrigen davon ausginge, dass aufgrund einer unrechtmäßigen Einreise des Antragstellers noch ein aktuelles Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nach § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG i. V. m. § 95 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 2 AufenthG bestünde, würde dies der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Ergebnis nicht entgegenstehen. Denn jedenfalls ist hier ein Absehen von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Ermessenswege möglich und nach dem Ergebnis der oben dargelegten Interessenabwägung aus Gründen des Kindeswohls auch geboten. Insoweit überwiegt insbesondere das Interesse des sehr jungen Sohnes des Antragstellers, vor einer einschneidenden Verlusterfahrung geschützt zu werden, das Ausweisungsinteresse in einem Maße, dass nur ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung dem durch Art. 6 Abs. 1 GG gebotenen Schutz der Familie gerecht wird. [...]

23 Vorliegend kann aufgrund der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beachtenden "einfachgesetzlichen Unsicherheiten" dahinstehen, ob der Trennungszeitraum von einem Jahr – zuzüglich der erforderlichen Reisezeiträume und ggf. eines Sicherheitszuschlages wegen etwaiger Unwägbarkeiten – angesichts des sehr jungen Sohnes des Antragstellers zumutbar wäre [...]. Die "einfachgesetzlichen Unsicherheiten" sprechen in dem vorliegend zu beurteilenden Einzelfall dafür, dass das Ermessen der Antragsgegnerin gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zugunsten des Antragstellers und des Absehens vom Erfordernis des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auf Null reduziert ist. Es erscheint völlig ungewiss, ob dem Antragsteller überhaupt das für eine Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland erforderliche Visum erteilt werden würde. Allein der Umstand, dass diesseits von einer Reduktion des nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eingeräumten Ermessens ausgegangen wird, führt für sich genommen nicht zur Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens [...]. Denn die Erteilung des Visums steht nach § 6 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Ermessen der Deutschen Vertretung in Nigeria und diese könnte die Erteilung des Visums versagen. Diese Unwägbarkeit ist in die durch das erkennende Gericht vorzunehmende Prognose zwingend einzustellen [...]. Insbesondere hat die Antragsgegnerin, die von der Auslandsvertretung nach § 31 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) zu beteiligen wäre, das Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bis zuletzt verneint. In einer derartigen Verfahrenskonstellation muss davon ausgegangen werden, dass die Antragsgegnerin sich gegenüber der Deutschen Vertretung in Nigeria entsprechend äußern würde, was die Versagung eines Visums gegenüber dem Antragsteller wahrscheinlich erscheinen lässt. [...]