Vorlage zur Verfassungsmäßigkeit von Leistungseinschränkungen für alleinstehende Personen in Sammelunterkünften:
Vorlage des Bundessozialgerichts an das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b AsylblG. Die betreffenden Regelungen des AsylbLG gehen von einer Einsparungsmöglichkeit durch gemeinsames Wirtschaften von alleinstehenden Erwachsenen aus und verstoßen gegen Art. 1 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG, soweit alleinstehenden Erwachsenen nur Leistungen in Höhe der Bedarfsstufe 2 zuerkannt werden. Die Grundannahme, dass Paare durch gemeinsames Haushalten Einsparungen erzielen können, lässt sich nicht pauschal auf alleinstehende Personen in Sammelunterkünften übertragen.
(Leitsätze der Redaktion; Vorinstanz: Sozialgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 08.04.2021, Az: S 32 AY 30/20; bezugnehmend auf: BVerfG, Beschluss vom 19.10.2022 - 1 BvL 3/21 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 37 ff.) - asyl.net: M31094)
[...]
11 Das Verfahren ist gemäß Art 100 Abs. 1 GG auszusetzen. Der Senat sieht sich an einer Entscheidung des Rechtsstreits gehindert. Er ist überzeugt, dass die in § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG [...] vorgesehene Höhe der Leistung, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Bedarf lediglich in Höhe der Bedarfsstufe 2 anerkannt wird, mit Art 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art 20 Abs. 1 GG unvereinbar ist (im Einzelnen unter 4.). [...]
28 4. Zur Überzeugung des Senats verstoßen § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG jeweils in der Fassung des Art 1 Nr. 5 AsylbLGÄndG3, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Bedarf lediglich in Höhe der Bedarfsstufe 2 anerkannt wird, gegen Art 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art 20 Abs. 1 GG.
29 a) Die Maßstäbe, an denen die Bestimmung der Bedarfe in Sammelunterkünften verfassungsrechtlich zu messen sind, ergeben sich für den Senat aus den durch das BVerfG in der Entscheidung vom 19.10.2022 (1 BvL 3/21 - BVerfGE 163, 254) dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG. Mit dieser Entscheidung ist § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit Art 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art 20 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt worden, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird. Mit § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG hat der Gesetzgeber als Folgeregelung zu § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG eine Bestimmung getroffen, wonach alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten, die nach einem Aufenthalt von (damals) 18 Monaten im Bundesgebiet im Grundsatz abweichend von § 3 und 4 AsylbLG Anspruch auf (höhere) Leistungen entsprechend dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) haben (sog Analogleistungsberechtigte), bei einer Unterbringung in einer Sammelunterkunft lediglich Bedarfe nach der Regelbedarfsstufe 2 zustehen. Diese Regelung ist verfassungswidrig.
30 Der Gesetzgeber, der die Sozialleistungen zur Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums fortlaufend realitätsgerichtet so zu bemessen hat, dass damit tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge getragen wird [...], kann zwar die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz binden, also nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können [...]. Er kann auch von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen [...]. Er kann also den Bezug existenzsichernder Leistungen auch grundsätzlich an die Erfüllung der Obliegenheit knüpfen, tatsächlich eröffnete, hierfür geeignete, erforderliche und zumutbare Möglichkeiten zu ergreifen, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern [...]. Eine Obliegenheit, durch gemeinsames Wirtschaften in einer Sammelunterkunft den Bedarf an existenzsichernden Leistungen des Staates zu senken, dient dem legitimen Ziel, den Nachranggrundsatz zu verwirklichen. Dabei darf der Gesetzgeber Bedarfe aber nicht pauschal nur auf der Grundlage der Vermutung absenken, dass Bedarfe bereits anderweitig gedeckt sind und Leistungen daher nicht zur Existenzsicherung benötigt werden, ohne dass dies für die konkreten Verhältnisse hinreichend tragfähig belegt wäre. Die pauschale Leistungskürzung im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ist deshalb nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Es fehlt an hinreichend tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme, dass in den Sammelunterkünften tatsächlich typischerweise die Voraussetzungen dafür vorliegen, durch die Erfüllung der Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens Einsparungen in dem Umfang erzielen zu können, dass dies die pauschale Absenkung des Regelbedarfs um zehn Prozent rechtfertigen könnte.
31 Das BVerfG hat zu § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG weiter ausgeführt, der Gesetzgeber habe zu den tatsächlichen Bedarfen keine Erhebungen in Sammelunterkünften angestellt und die Erwägung, beim notwendigen Bedarf an Nahrung könne eingespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werde [...], werde nicht auf Tatsachen gestützt [...]. Auch die vom BVerfG selbst eingeholten Stellungnahmen sprechen eher dagegen, dass in den Sammelunterkünften durch gemeinsames Wirtschaften tatsächlich nennenswerte Einsparungen erzielt würden [...]. Die gegenüber der Regelbedarfsstufe 1 pauschal abgesenkte Leistungshöhe im Anwendungsbereich von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG kann auch nicht tragfähig darauf gestützt werden, dass die im Grundsatz zulässige Annahme von Einsparungen in Paarhaushalten auf Sammelunterkünfte übertragen werden könnte. Der Gesetzgeber formuliert diese Annahme, ohne tatsächliche Grundlagen für die Gleichsetzung zu benennen. Anders als bei in einer Wohnung zusammenlebenden Paaren kann der Gesetzgeber bei Alleinstehenden in einer Sammelunterkunft auch unter Berücksichtigung der in den vorliegenden Stellungnahmen geschilderten tatsächlichen Situation nicht als Regelfall unterstellen, dass sie mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern tatsächlich gemeinsam "aus einem Topf" wirtschafteten und insofern mit Paarhaushalten vergleichbar seien (so aber BT-Drucks. 19/10052 S 19 f, 23 ff). Für diese Annahme haben sich im Verfahren wegen der Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG keine Anhaltspunkte ergeben, was das BVerfG im Einzelnen dargestellt hat [...].
32 b) Die Regelungen in § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG sind mit den dargestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht zu vereinbaren, soweit alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten in Sammelunterkünften niedrigere Leistungen zuerkannt werden. Für Grundleistungsberechtigte ergeben sich zur Überzeugung des Senats ebenfalls keine gesicherten Belege dafür, dass in Sammelunterkünften Einsparungen ermöglicht werden, die für alleinstehende erwachsene Leistungsberechtigte eine Bemessung des Bedarfs nach der Bedarfsstufe 2 rechtfertigen könnten. [...]
36 Mit den vom BVerfG erbetenen Stellungnahmen der Länder [...], die dem BVerfG bei seiner Entscheidung vorlagen, wird nicht erkennbar, dass die in den Sammelunterkünften wohnenden alleinstehenden Grundleistungsberechtigten regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern erzielen, die einer Absenkung der Leistungshöhe um zehn Prozent gegenüber der Bedarfsstufe 1 entsprechen. In den Stellungnahmen wird deutlich, dass die Lebensverhältnisse in Sammelunterkünften sich nicht danach unterscheiden lassen, ob Leistungsberechtigte sich im Grundleistungs- oder im Analogleistungsbezug befinden. Wie für Analogleistungsberechtigte erweist sich damit eine Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens auch für Grundleistungsberechtigte nicht als verhältnismäßig im engeren Sinne, weil nicht hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese erfüllen und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielen zu können. Auch für Grundleistungsempfänger fehlt für die vom Gesetzgeber behaupteten konkreten Synergieeffekte jeder Nachweis. Allein die zeitliche Begrenzung der abgesenkten Grundleistungen auf die ersten 18 Monate Aufenthalt im Bundesgebiet, nach deren Ablauf im streitigen Zeitraum noch Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB XII bestand, führt zu keinem anderen Befund. Aus der (voraussichtlichen) Dauer des Aufenthalts im Inland lässt sich in keiner Weise ableiten, dass konkrete Synergieeffekte beim Zusammenleben in Sammelunterkünften entstehen. Dies behauptet auch der Gesetzgeber nicht.
37 Der Senat ist nach alledem zu der Überzeugung gelangt, dass die Ausführungen des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG [...] bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zum Grundleistungsbezug in § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b AsylbLG in gleicher Weise Beachtung finden müssen und zur Verfassungswidrigkeit der Normen führen. Dies entspricht offenbar auch der Auffassung im zuständigen Fachministerium. Der Gesetzgeber hat gleichwohl trotz viermaliger Änderung des AsylbLG seit Oktober 2022 in anderen Punkten keine weitere Begründung für die vorgenommene Differenzierung bei dem Leben in Sammelunterkünften aufgezeigt [...] unabhängig davon, welche Bedeutung dies für zurückliegende Leistungszeiträume hätte. Er hat es weiterhin unterlassen, die tatsächlichen Grundlagen für die Gleichsetzung der in den Sammelunterkünften wohnenden alleinstehenden Grundleistungsberechtigten mit erwachsenen Leistungsberechtigten, die mit einem Ehegatten oder Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft mit einem Partner zusammenleben, darzustellen und durch empirische Erkenntnisse zu belegen. Mit Art 3 Nr. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21.02.2024 [...] ist mit Wirkung vom 27.2.2024 vielmehr die Wartefrist für Analogleistungen in § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG von 18 auf 36 Monate verlängert und damit die Belastung, die für alleinstehende Grundleistungsberechtigte in Sammelunterkünften durch die Absenkung auf die Bedarfsstufe 2 entsteht, deutlich vergrößert worden. Auch mit dieser Gesetzesänderung wird aber nach wie vor nicht begründet dargelegt, dass die in den Sammelunterkünften wohnenden alleinstehenden Grundleistungsberechtigten regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern erzielen, die einer Absenkung der Leistungshöhe um zehn Prozent gegenüber der Bedarfsstufe 1 entsprechen. [...]