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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13.01.2025 - 13 FEK 154/22 - asyl.net: M33151
https://www.asyl.net/rsdb/m33151
Leitsatz:

18 Monate als angemessene Verfahrensdauer im Klageverfahren:

1. Für ein Verfahren mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad und durchschnittlicher Bedeutung für den Kläger ist im Einzelfall ein Zeitraum von 18 Monaten angemessen.

2. Die Verfahrensverzögerung kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass ältere Klageverfahren anhängig seien und die Kammer mit zahlreichen, oftmals abschiebungsrelevanten Eilverfahren im Asyl- und Ausländerrecht belastet sei. Eine solche Situation muss sich der Staat zurechnen lassen, weil es Aufgabe des Präsidiums gewesen wäre, die zuständige Kammer zu entlasten oder zusätzliche Richter*innen einzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufenthaltsrecht, Aufenthaltserlaubnis, Asylverfahrensdauer, angemessen, Verzögerungsrüge, Entschädigung
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 36 Abs. 2, GVG § 198, VwGO § 156, VwGO § 173 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Im Übrigen ist die Klage teilweise begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 173 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 198 Abs. 1 GVG wegen einer unangemessenen Verfahrensdauer für den - über die von dem Anerkenntnis des Beklagten umfassten Zeiträume von Juni 2022 bis Mitte Mai 2023 und von Mitte Juni 2023 bis Mitte November 2023 hinausgehenden - Zeitraum vom 3. März 2021 bis zum 9. Februar 2024.

Nach § 198 Abs. 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. [...]

Für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es zudem nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat, so dass die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer dementsprechend für sich allein keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter impliziert [...]. Da es für die Frage der Unangemessenheit der Verfahrensdauer auf die Umstände des Einzelfalls ankommt und eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist, benennt § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nur beispielhaft und ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind [...]. Der Senat ist aufgrund der dargelegten Grundsätze der Auffassung, dass nicht jede gerichtliche Handlung und jeder Zeitraum, in dem keine nach außen dokumentierten Aktionen des Gerichts stattgefunden haben, im Einzelnen darauf hin überprüft werden müssen, ob hierin eine unangemessene Verzögerung lag oder ob hierin ein gerechtfertigter Zeitraum zur Entscheidungsfindung gesehen werden kann. Dies würde gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters verstoßen, da die Gewichtung der vielfältigen Verfahren in einem Dezernat und die Frage, wie und zu welchem Zeitpunkt ein konkretes Verfahren gefördert werden soll, grundsätzlich einem Entscheidungsspielraum des Richters unterliegt. Es ist vielmehr unter Berücksichtigung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls dahingehend vorzunehmen, ob es unangemessene Verzögerungen des Verfahrens gegeben hat, die in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Spruchkörpers fallen, wobei einzelne Abschnitte des Verfahrens in den Blick genommen werden können [...]

Jedenfalls ist bei einer Betrachtung und Bewertung der dem jeweiligen Gericht obliegenden Verfahrenshandlungen eine Überlänge des gerichtlichen Verfahrens nicht jeweils bereits ab Entscheidungsreife zu bejahen. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass das Gericht vor einer verfahrensfördernden Handlung oder Entscheidung zur Sache Zeit zur rechtlichen Durchdringung benötigt, um dem rechtsstaatlichen Anliegen zu genügen, eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes vorzunehmen. Der ab Eintritt der Entscheidungsreife zugestandene Zeitraum ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maßgeblich ist insoweit - genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aufgeführten Umstände -, wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus ihrer Ex-ante-Sicht einschätzen durften. Bereits aus dem Wortlaut "unangemessen" lang folgt, dass nicht die optimale oder "richtige" Länge des Gerichtsverfahrens zu bestimmen ist, sondern eine solche, die den Rahmen des noch Angemessenen überschreitet [...].

a) Das Ausgangsverfahren wies einen durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad auf. Streitgegenstand war der geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Neubescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Dabei waren als Anspruchsgrundlagen § 25 Abs. 5 AufenthG und § 36 Abs. 2 AufenthG in den Blick zu nehmen. Der Schwerpunkt hätte bei streitiger Entscheidung des Ausgangsverfahrens auf der Prüfung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG gelegen. In diesem Zusammenhang wäre unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie (Art. 6 GG) im Hinblick auf die minderjährigen Kinder des Klägers die ordnungsgemäße Ausübung des Absehensermessens des § 5 Abs. 2 Satz 2 und des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu überprüfen gewesen. Auch wären etwaige während des gerichtlichen Verfahrens eingetretenen Änderungen nach dem Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO zu ermitteln und zu berücksichtigen gewesen. Dabei handelt es sich insgesamt um ein bei den für das Aufenthaltsrecht zuständigen Kammern der Verwaltungsgerichte häufig abzuarbeitendes Prüfungsprogramm.

b) Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger ist ebenfalls als zumindest durchschnittlich einzuschätzen. [...]

c) Ein zögerliches Verhalten im Ausgangsverfahren, das das Ausgangsverfahren in relevanter Weise verzögert hätte, kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden. Das gilt insbesondere für die Mitteilung der Geburt des weiteren gemeinsamen Kindes mit Schriftsatz vom 8. Februar 2022 und damit erst fünf Monate nach dessen Geburt am ... 2021. Es ist nicht erkennbar, dass das Verwaltungsgericht bei früherer Mitteilung der Geburt zu einer früheren Bearbeitung und zügigeren Erledigung des Verfahrens gelangt wäre. So hat der Berichterstatter des Verwaltungsgerichts den entsprechenden Schriftsatz des Klägers vom 8. Februar 2022 lediglich an die Gegenseite zur Stellungnahme weitergeleitet und keine weitergehenden Aktivitäten entfaltet. Noch mit Verfügung vom 14. Juli 2022 hat der Berichterstatter des Verwaltungsgerichts auf Nachfrage des Berichterstatters des Senats erklärt, gegenwärtig und in absehbarer Zeit stehe das Ausgangsverfahren nicht zur Entscheidung an, da in dem von ihm geführten Dezernat ältere Klageverfahren anhängig seien und die Kammer mit zahlreichen, oftmals abschiebungsrelevanten Eilverfahren im Asyl- und Ausländerrecht belastet sei.

d) Unter Berücksichtigung der zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Gesichtspunkten angestellten Bewertungen und der richterlichen Gestaltungsfreiheit wurde das Verfahren zeitweise ohne sachlichen Rechtfertigungsgrund nicht gefördert und erreichte so beginnend am 3. März 2021 bis zum Abschluss Anfang Februar 2024, mithin für etwa 35 Monate, eine unangemessene Dauer. [...]

Das Ausgangsverfahren war ausgeschrieben, nachdem die im Ausgangsverfahren beklagte Stadt ... mit Schriftsatz vom 3. September 2019 auf die Klagebegründung des Klägers vom 16. August 2019 erwidert und die Abweisung der Klage beantragt hatte. Ab diesem Zeitpunkt war dem Verwaltungsgericht Oldenburg im hier zu beurteilenden Einzelfall ein Spielraum für die Gestaltung des Verfahrens und für die Entscheidungsfindung von 18 Monaten zuzugestehen. Dieser Zeitraum trägt dem Umstand Rechnung, dass die Gestaltung des Verfahrens in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht obliegt und diesem für die rechtliche Durchdringung des Streitstoffs, derer es für eine Förderung des Verfahrens bis hin zu einer Sachentscheidung bedarf, eine angemessene Zeit einzuräumen ist. [...]

Nach Ablauf dieses Überdenkens- und Entscheidungszeitraums Anfang März 2021, ausgehend vom Ausgeschriebensein am 3. September 2019 daher konkret am 3. März 2021, bestand keine sachliche Rechtfertigung mehr für eine weitere Fortdauer des Verfahrens. Eine solche sachliche Rechtfertigung ist insbesondere nicht im zwischenzeitlichen weiteren Austausch der Rechtsstandpunkte der Beteiligten zu sehen. Dieser in verwaltungsgerichtlichen Verfahren regelmäßig auftretende weitergehende Schriftsatzwechsel ist vom vorgenannten Überdenkens- und Entscheidungszeitraum umfasst und rechtfertigt nicht dessen Verlängerung, wenn das Verwaltungsgericht das Verfahren nicht innerhalb des angemessenen Überdenkens- und Entscheidungszeitraums zum Abschluss gebracht hat.

Die Geburt eines weiteren gemeinsamen Kindes am ... 2021 stellt zwar einen neuen Umstand dar, der bei einer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen gewesen wäre. Dieser erforderte aber keine zusätzliche Sachaufklärung, so dass er auch keine Verlängerung des Überdenkens- und Entscheidungsspielraums rechtfertigt. Hinzu kommt, dass das weitere Kind des Klägers erst deutlich nach Ablauf dieses Zeitraums Anfang März 2021 geboren worden ist, die Kammer bei angemessenem Verfahrenslauf mithin insoweit keine zusätzlichen Überlegungen hätte anstellen müssen. [...]

Soweit das Verwaltungsgericht in der Verfügung seines Berichterstatters vom 14. Juli 2022 darauf verwiesen hat, gegenwärtig und in absehbarer Zeit stehe das Ausgangsverfahren nicht zur Entscheidung an, da in dem von ihm geführten Dezernat ältere Klageverfahren anhängig seien und die Kammer mit zahlreichen, oftmals abschiebungsrelevanten Eilverfahren im Asyl- und Ausländerrecht belastet sei, führt dies für den hier zu beurteilenden Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG nicht zu einer Rechtfertigung der Verfahrensverzögerung. Denn es wäre entweder Aufgabe des Präsidiums gewesen, die zuständige Kammer zu entlasten, oder - bei einer Überlastung des gesamten Gerichts - Aufgabe des Beklagten, zusätzliche Richter einzustellen. Derartige strukturelle Mängel muss sich, wie oben dargestellt, der Staat zurechnen lassen [...].

e) Durch die Verzögerung von 35 Monaten hat der Kläger als Verfahrensbeteiligter des Ausgangsverfahrens vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg einen immateriellen Nachteil erlitten, der durch eine Entschädigungszahlung in Höhe von 3.500 EUR wiedergutzumachen ist. Soweit der Kläger mit seiner Klage eine darüberhinausgehende Entschädigungszahlung begehrt, ist die Klage unbegründet und abzuweisen. [...]

Der Beklagte hat die gesetzliche Vermutung im vorliegenden Fall nicht widerlegt. Der Kläger hat aus der Dauer des Verfahrens keinerlei Vorteile gezogen. Da es im Ausgangsverfahren um die Legalisierung des Aufenthalts des Klägers ging und eine zwangsweise Beendigung seines Aufenthalts nicht im Raum stand, kann der weitere (rechtlich ungesicherte) Aufenthalt im Bundesgebiet während des gerichtlichen Verfahrens nicht als Vorteil angesehen werden. Auch ist die Höhe des Entschädigungsanspruchs nach Abzug der vom Beklagten anerkannten Summe von 1.800 EUR in Höhe von weiteren 1.700 EUR nicht derart geringfügig, dass insoweit eine schlichte Feststellung der überlangen Verfahrensdauer als ausreichend angesehen werden könnte. Ohnehin ist es nach dem Regelungssystem des § 198 Abs. 2 und 4 GVG aber auch denklogisch nicht zu rechtfertigen, einen Entschädigungsanspruch (nur) in einer bestimmten Höhe anzuerkennen, in der überschießenden Höhe aber davon auszugehen, eine schlichte Feststellung der Überlänge der Verfahrensdauer sei ausreichend. Anderenfalls würde dem Beklagten die Macht verliehen, einen bestehenden Entschädigungsanspruch durch teilweise Anerkennung einseitig zu reduzieren.

Der Kläger ist danach in Höhe von 3.500 EUR (= 35 Monate unangemessener Verfahrensdauer x 100 EUR/Monat) zu entschädigen. Die Bemessung des immateriellen Nachteils richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 EUR für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter einem Jahr lässt diese Regelung eine zeitanteilige, aber höchstens monatliche Berechnung zu [...]. Nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag von 3.500 EUR nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Eine solche Unbilligkeit erachtet der Senat hier nicht für gegeben. Insbesondere vermag er eine "ungebührliche Verzögerung der Schadensregulierung" nicht zu erkennen. [...]