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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 08.01.2025 - 17 K 248/23 A - asyl.net: M33686
https://www.asyl.net/rsdb/m33686
Leitsatz:

Gefahr der Verfolgung für LSBTQI+ - Personen: 

1. Betrachtet man die Gesamtsituation in der Türkei ist davon auszugehen, dass sich die LGBTQI+-Gemeinschaft in der Türkei einer erheblichen erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sieht. Gewalttätige Übergriffe bilden nur den schwerwiegendsten Ausschnitt einer weit verbreiteten homophoben und transphoben Grundhaltung, die nach den vorliegenden Erkenntnismitteln fest verankert in der türkischen Gesellschaft ist, in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens zu teilweise massiven Problemen führt und von staatlichen Akteuren noch aktiv befeuert wird.

2. Eine interne Fluchtalternative innerhalb der Türkei steht LGBTQI+-Personen nicht zur Verfügung. Soweit teilweise Städte oder Stadtviertel als interne Fluchtalternativen genannt werden, kann der Kläger darauf nicht verwiesen werden. Einzelne Stadtteile genügen bereits nicht als interne Fluchtalternative und der Kläger ist auch in diesen Stadtteilen nicht geschützt vor Verfolgung. Zuletzt kann darüber hinaus nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass der Kläger sich in einem dieser Stadtteile niederlassen kann, weil unter Berücksichtigung des dortigen Mietniveaus nicht zu erwarten ist, dass er dort sein Existenzminimum wird sichern können.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkei, homosexuell, LGBTI, soziale Gruppe, interne Fluchtalternative, bisexuell
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

22 2. Dem Kläger droht aufgrund seiner Bisexualität in der Türkei Verfolgung. [...]

26 Gemessen hieran ist die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet. Nach Einschätzung der Einzelrichterin sieht sich die LGBTQI+-Gemeinschaft (Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual u.a.) in der Türkei insgesamt einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch die türkische Gesellschaft ausgesetzt (vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 17. Juli 2024 – 17 K 330/23 A, EA S. 8, VG Berlin, Urteil vom 24. April 2023 – 36 K 560.19 A – EA S. 8 f., VG Berlin, Urteil vom 1. Juli 2021 – 36 K 297.18 A – EA S. 7; a.A. VG Berlin, Urteil vom 4. Dezember 2024 – 11 K 367/24 A – EA, S. 8; VG Köln, Urteil vom 15. Mai 2023 – 15 K 6324/21.A – juris Rn. 29 ff.; VG Göttingen, Urteil vom 8. November 2022 – 4 A 175/19 – juris Rn. 37 ff.).

27 Auf Grundlage der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel kann insbesondere nicht angenommen werden, dass gewalttätige Übergriffe auf LGBTQI+-Personen punktuelle Ausnahmeerscheinungen sind. Vielmehr ist mit gewaltvollen Übergriffen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen, wenn Betroffene ihre sexuelle Orientierung nicht verheimlichen – was ihnen wiederum nicht zugemutet werden kann. Denn wenn es - wie beim Kläger – zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben, kann nicht erwartet werden, dass die Sexualität im Herkunftsland geheim gehalten oder Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird, um die Gefahr der Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – C-199/12 u.a. – NVwZ 2014, 132, juris Rn. 71).

28 Es ist zunächst anhand der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel davon auszugehen, dass Betroffene ihre sexuelle Orientierung außerhalb der Großstädte aus Furcht vor Übergriffen überhaupt nicht ausleben. So ist es nach den Erkenntnismittel nur "in Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste […] in bestimmten Bereichen möglich, Homosexualität zu zeigen. Darüber hinaus ist sie gesellschaftlich nicht akzeptiert." (Auswärtiges Amt, Bericht über asyl- und abschiebungsrelevante Lage, 20. Mai 2024, S. 15). Im Umkehrschluss ist es außerhalb dieser Großstädte und an der Südküste – also im ganz überwiegenden Teil des Landes – unmöglich, als queerer Mensch aufzutreten, ohne sich Übergriffen ausgesetzt zu sehen.

29 Doch selbst in den Großstädten, in denen es überhaupt erst dem Grunde nach möglich ist, die sexuelle Orientierung offen zu zeigen, ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit gewaltvollen Übergriffen und damit Verfolgungshandlungen zu rechnen.

30 Bei Bekanntwerden der sexuellen Orientierung werden die Betroffenen "nicht selten Opfer von Gewalt" (Auswärtiges Amt, Bericht über asyl- und abschiebungsrelevante Lage, 20. Mai 2024, S. 15; auch United States, Department of State, Turkey 2022 Human Rights Report, 20. März 2023, S. 91). Dabei sehen sich die meisten Betroffenen bei den gewalttätigen Übergriffen mehr als einem Angreifer gegenüber. Mehr als die Hälfte der Angriffe finden außerdem in der Anwesenheit von Zuschauerinnen und Zuschauern statt, die in der Mehrzahl der Fälle nicht eingreifen, teils über Übergriffe lachen (vgl. ACCORD, Aktuelle Situation offen schwul lebender Männer, 5. April 2023 S. 6 i.V.m. Kaos GL, Homophobia and Transphobia Based Hate Crimes in Turkey 2020 Review, Oktober 2021, S. 6 auch mit einer Auflistung über homophobe und transphobe Übergriffe).

31 Der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung steht dabei nicht entgegen, dass es sich allein zahlenmäßig nicht um eine große Vielzahl an bekannten Fällen handeln mag. Denn bei Betrachtung der Zahlen ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass der Großteil der queeren Menschen in der Türkei aus Vorsicht nicht offen in Erscheinung tritt, um Übergriffen zuvorzukommen. Dies zeigt sich beispielsweise dadurch, dass die gemeldeten Übergriffe maßgeblich gerade in den eigentlich weniger konservativen Großstädten vorkommen. Da bereits die Grundannahme besteht, dass überhaupt nur in diesen Großstädten die Möglichkeit vorhanden ist, als queerer Mensch in Erscheinung zu treten, treten die bekannt gewordenen Übergriffe folgerichtig dort auf. Zusätzlich ist selbst in den Großstädten aufgrund der zu befürchtenden Übergriffe davon auszugehen, dass sich die große Mehrzahl queerer Menschen aus Angst vor Anfeindungen und Gewalt nicht offen zeigen, was die für sich allein möglicherweise geringe Anzahl an Übergriffen weiter relativiert. Und trotzdem kommt es selbst in den als liberaler bezeichneten Großstädten bei einem offenen Ausleben zu den gewaltvollen Übergriffen (vgl. insoweit ACCORD, Aktuelle Situation offen schwul lebender Männer, 5. April 2023 S. 6 i.V.m. Kaos GL, Homophobia and Transphobia Based Hate Crimes in Turkey 2020 Review, Oktober 2021, S. 10 f.). Die genannten Großstädte sind insoweit nur ein vermeintlicher Rückzugsort für die queere Szene.

32 Darüber hinaus beschränkt sich die Prüfung einer (drohenden) Verletzung von Art. 3 EMRK nicht allein auf die Ermittlung und quantitative Bezifferung gewalttätiger Übergriffe, sondern erfasst auch diskriminierende Verhaltensweisen, die psychische Leiden verursachen. Eine erniedrigende Behandlung im Sinne der Vorschrift kann auch dann vorliegen, wenn sie (ohne die physische Integrität zu berühren) in den betreffenden Personen in entwürdigender Weise Ängste, seelische Qualen oder das Gefühl von Minderwertigkeit auslöst (EGMR, Urteil vom 12. Mai 2015 – Nr. 73235/12 – Identoba u.a./Georgia, Rn. 65).

33 Betrachtet man die Gesamtsituation in der Türkei ist davon auszugehen, dass sich die LGBTQI+-Gemeinschaft in der Türkei einer erheblichen erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sieht. Gewalttätige Übergriffe bilden nur den schwerwiegendsten Ausschnitt einer weit verbreiteten homophoben und transphoben Grundhaltung, die nach den vorliegenden Erkenntnismitteln fest verankert in der türkischen Gesellschaft ist, in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens zu teilweise massiven Problemen führt und von staatlichen Akteuren noch aktiv befeuert wird. 72,3 % der türkischen Gesellschaft, und damit eine ganz überwiegende Mehrheit, sehen Homosexuelle als schädlich für die Gesellschaft an (Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Türkei Länderinformationen der Staatendokumentation, 7. März 2024, S. 228). LGBTQI+-Personen sehen sich in zentralen Bereichen wie dem Berufs- und Arbeitsleben, dem Bildungsbereich und der medizinischen Versorgung häufig mit erheblicher Diskriminierung und daraus resultierenden Zugangshindernissen konfrontiert. Die Abneigung gegenüber LGBTQI+-Personen findet in ganz erheblichem Maße Ausdruck in Form von "Hate Speech", die auch tonangebend von staatlichen Akteuren ausgeht. So war anti-queere "Hate Speech" ein Kernelement des Wahlkampfes des erneut gewählten Präsidenten Erdoğans (vgl. Human Rights Watch, Türkiye, Events of 2023, Stand 1. Januar 2024, S. 5).

34 Die Situation hat sich dabei in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert. Seit 2014 werden auch in den Großstädten wie Istanbul – also die Orte, die an sich als die genannt werden, an denen die sexuelle Orientierung gezeigt werden kann – Pride-Paraden verboten. An den Verboten wird trotz entgegenstehender Gerichtsurteile festgehalten. Werden die Paraden trotzdem abgehalten, kommt es zu gewaltvollen Eingriffen gegen sowie Verhaftungen von Teilnehmenden sowie zu willkürlichen Verhaftungen bereits vor den Paraden in der Umgebung (vgl. Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Türkei Länderinformationen der Staatendokumentation, 7. März 2024, S. 224 ff.; Human Rights Watch, Türkiye, Events of 2023, Stand 1. Januar 2024, S. 5). Es gibt mehrere Berichte darüber, dass die im Zusammenhang mit den Pride Paraden festgenommenen Demonstrierenden und Anwält:innen gefoltert und misshandelt wurden (United States, Department of State, Turkey 2022 Human Rights Report, 20. März 2023, S. 91). Die systematischen Rechtsverletzungen nahmen bereits 2021 im Vergleich zu den Vorjahren zu (Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Türkei Länderinformationen der Staatendokumentation, 7. März 2024, S. 225) und auch im Human Rights Report von 2022 wird eine Zunahme von Anti-LGBTQI+-Taten beschrieben (United States, Department of State, Turkey 2022 Human Rights Report, 20. März 2023, S. 92).

35 Selbst wenn man davon ausginge, dass die einzelnen diskriminierenden Verhaltensweisen für sich allein noch keine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen, ist jedenfalls eine Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG anzunehmen. Nach dieser Vorschrift gelten auch Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist, als Verfolgung.

36 Dabei können auch Eingriffshandlungen Berücksichtigung finden, die für sich allein genommen nicht die Qualität einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 36 m.w.N.). Insbesondere können danach verschiedenartige Diskriminierungen gegen Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe einbezogen werden, beispielsweise beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen. Dabei sind alle Handlungen in den Blick zu nehmen, die sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen darstellen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 6. Juli 2022 – A 13 S 733/21 – juris Rn. 32 f.).

37 In der Türkei ist nach dem oben gesagten jedenfalls davon auszugehen, dass eine offen gelebte von der türkischen Gesellschaft als "anders" wahrgenommene sexuelle Orientierung von der Gesellschaft eine solche Feindseligkeit entgegengebracht wird, dass in einer Kumulierung der Handlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG von einer flüchtlingsschutzrelevanten Intensität auszugehen ist.

38 Letztlich steht der beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungshandlung bezogen auf den Kläger auch nicht entgegen, dass dieser bisher von Angriffen verschont blieb. Denn angesichts der dargestellten gesellschaftlichen Situation in der Türkei und der Annahme, dass niemand darauf verwiesen werden kann, seine sexuelle Orientierung heimlich auszuleben, ist davon auszugehen, dass auch der Kläger selbst bei einer Rückkehr von den oben dargestellten Verfolgungshandlungen betroffen wäre. [...]

48 5. Zuletzt besteht für den Kläger auch keine interne Fluchtalternative. [...]

49 In den Großstädten der Türkei gibt es Stadtviertel, die als liberalere Viertel bekannt sind und als interne Schutzmöglichkeit betrachtet werden, wie beispielsweise in Istanbul die Stadtviertel Beyoğlu und Kadıköy. Soweit teilweise die Großstädte insgesamt als interne Schutzmöglichkeit gesehen werden (so etwa VG Magdeburg, Urteil vom 9. April 2018 – 11 A 33/17 – juris Rn. 65), ist dem nicht beizupflichten. So geht der Lagebericht des Auswärtigen Amts auch für Großstädte davon aus, dass dort Homosexualität "in bestimmten Bereichen" gezeigt werden kann (Auswärtiges Amt, Bericht über asyl- und abschiebungsrelevante Lage, 20. Mai 2024, S. 15). Dies deckt sich mit öffentlich verfügbaren Quellen, aus denen hervorgeht, dass es sich bei den LGBTQI+-freundlicheren Vierteln beispielsweise in Istanbul um einige wenige "trendige" Viertel handelt, wobei der Fokus hierbei häufig auf Beyoğlu und das Gebiet um den Taksim-Platz liegt (vgl. etwa der englische Wikipedia-Eintrag LGBTQ-Culture in Istanbul und die dortigen Quellen: https://en.wikipedia.org/wiki/LGBTQ_culture_in_Istanbul#cite_note-:6-2).

50 Diese Stadtviertel stellen aber keine interne Schutzmöglichkeit dar, auf die der Kläger verwiesen werden könnte. Einzelne Stadtteile genügen bereits nicht als interne Fluchtalternative und der Kläger ist auch in diesen Stadtteilen nicht geschützt vor Verfolgung (a.). Zuletzt kann darüber hinaus nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass der Kläger sich in einem der Stadtteile niederlassen kann, weil unter Berücksichtigung des dortigen Mietniveaus nicht zu erwarten ist, dass er dort sein Existenzminimum sichern können wird (b.).

51 a. Einzelne Stadtteile stellen keinen "Teil des Zielstaates" im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG dar, in denen der Kläger hinreichend vor Verfolgung geschützt wäre.

52 Bei den genannten Stadtvierteln handelt es sich um nur wenige Quadratkilometer große Stadtbezirke (Kadıköy ist beispielsweise 25 km² groß, Beyoğlu nur knapp 9 km²). Bei geographisch derart kleinen Gebieten handelt es sich nicht um einen "Teil des Zielstaates" im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG. Der Begriff des Landesteils ist nicht legaldefiniert. Üblich ist eine Anknüpfung an geopolitische Untergliederungen, wie einzelne Regionen oder Provinzen. Entscheidend ist aber, dass der als verfolgungssichere Ort zur Verfügung stehende Bereich eine hinreichende Größe aufweist, um nachhaltige Sicherheit zu verheißen und eine Lebensgrundlage zu gewährleisten. Dies dürfte noch bei gesamten größeren Städten der Fall sein, aber dann nicht mehr, wenn es sich nur um Teile einer Stadt handelt, weil eine dauerhafte Niederlassung in einigen wenigen sicheren Straßenzügen nicht zumutbar ist (Wittmann, in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 1. Juli 2024, § 3e AsylG Rn. 16).

53 Dass eine dauerhafte Niederlassung in nur bestimmten Stadtteilen nicht zumutbar ist, erscheint auch vor dem Hintergrund stimmig, dass eine Begrenzung auf Stadtviertel in den Großstädten der heutigen Zeit bereits schlicht nicht möglich ist. Denn bei einzelnen Stadtteilen handelt es sich gerade nicht um eine gesamte Stadt oder ein ganzes Gebiet, so dass eine gewisse Mobilität hinsichtlich einer Arbeitsstelle oder sonstigen alltäglichen Besorgungen noch möglich wäre. Vielmehr würde der Kläger darauf verwiesen werden, sein gesamtes Leben, von der Wohnung über die Arbeitsstelle bis hin zum Sozialleben, auf ein Stadtviertel zu begrenzen. Dies dürfte bereits hinsichtlich nicht abgetrennter Stadtteile nicht möglich sein, würde aber jedenfalls den Kläger zu einer weitreichenden eingeschränkten örtlichen Zurückhaltung zwingen. Treibt man den Gedanken von einzelnen Stadtteilen als interne Schutzmöglichkeit auf die Spitze, führt dies letztlich zu Ghettobildung (vgl. dazu VG Göttingen, Urteil vom 8. November 2022 – 4 A 175/19 – juris, Rn. 57).

54 Bei den Stadtteilen handelt es sich auch nicht um eine Schutzalternative, die hinreichenden Schutz vor Verfolgung bieten würde. Wie dargestellt, handelt es sich bei einzelnen Stadtteilen gerade nicht um hinreichend geschützte Zonen oder Gebiete, in denen ein freies Leben des Klägers möglich wäre. Vielmehr handelt es sich um Stadtteile, die gerade auch das touristische Zentrum der Großstädte ausmachen, die nicht nur von ausländischen, sondern auch von inländischen Touristen stetig frequentiert werden (Beyoğlu wird beispielsweise als "Wahrzeichen des westlich geprägten Istanbuls" bezeichnet, vgl. de.wikivoyage.org/wiki/ Istanbul/Beyo%C4%9Flu). Genauso wie nicht sichergestellt werden kann, dass der Kläger sein gesamtes Leben auf ein Stadtviertel begrenzen kann, kann in einer Großstadt, die von der Mobilität der dort Lebenden allgemein geprägt ist, nie sichergestellt werden, dass ein Stadtviertel nur von den möglicherweise liberaleren Anwohnern frequentiert wird. Es kann daher schlicht nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in diesen allgemein zwar liberaleren Vierteln von der allgemeinen Stimmung der Gesellschaft gegen queere Menschen geschützt ist. Gerade auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, die sich regelmäßig nicht auf ein Stadtviertel begrenzen, sondern verschiedene Stadtviertel miteinander verbinden, wird es unmöglich sein, trotz eines Aufenthalts in den liberaleren und kosmopolitischen Stadtvierteln, nicht auf die allgemeine Gesellschaft und deren Ansichten zu treffen und damit möglichen Gewalttaten ausgesetzt zu sein.

55 b. Darüber hinaus kann vernünftigerweise nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich in den genannten Stadtvierteln niederlassen kann, weil unter Berücksichtigung des dortigen Mietniveaus nicht zu erwarten ist, dass er dort sein Existenzminimum sichern können wird. [...]