VG Frankfurt a.M.

Merkliste
Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 31.10.2006 - 1 E 1230/06 - asyl.net: M9329
https://www.asyl.net/rsdb/M9329
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, subsidiärer Schutz, Anspruch, atypischer Ausnahmefall, abgelehnte Asylbewerber, offensichtlich unbegründet, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Zuwanderungsgesetz, Rückwirkung, Altfälle, Verfassungsmäßigkeit
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2; AsylVfG § 30 Abs. 3
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Beklagte hat die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu Unrecht abgelehnt. Der Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Der Anspruch beruht auf § 25 Abs. 3 AufenthG. Danach soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen. Dies ist unstreitig der Fall.

Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht auch nicht, wie der Beklagte meint, die Regelung des § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG entgegen, wonach vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf, wenn der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist und - Satz 3 - kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht. Dieses Erteilungsverbot kommt hier schon deshalb nicht zur Geltung, weil nach § 25 Abs. 3 AufenthG bei Vorlage der tatbestandlichen Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht. Zwar handelt es sich, wie bereits ausgeführt, um eine Soll-Vorschrift und nicht um eine Ist-Vorschrift. Das mag möglicherweise zur Folge haben, dass nicht von einem gesetzlichen Anspruch gesprochen werden kann (so Dienel ZAR 2005, 120), wohl aber von einem rechtlichen. Da § 10 Abs. 3 AufenthG nur von einem Anspruch und nicht von einem gesetzlichen Anspruch spricht, reicht dies jedenfalls aus. Dass im Rechtssinne eine Anspruch vorliegt, ergibt sich daraus, dass die Behörde, soweit keine atypischen Umstände vorliegen, die Aufenthaltserlaubnis erteilen muss. Dieser rechtlichen Pflicht entspricht ein entsprechendes subjektives Recht auf Seiten des Ausländers, das gerichtlich voll nachprüfbar ist. Insbesondere unterliegt es auch der gerichtlichen Kontrolle, ob atypische Umstände vorliegen, die ausnahmsweise eine Ausnahme rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.11.2005 - 1 C 18.04). Sofern solche atypischen Umstände nicht vorliegen, handelt es sich also um einen Rechtsanspruch des Ausländers (HessVGH Urt. v. 01.09.2006 - 9 UE 1650/06).

Zwar wird in der Literatur (vgl. etwa Wolff in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 114 Rn 131) teilweise auch die Auffassung vertreten, es handele sich bei Soll-Vorschriften um Ermessensnormen, wobei das Ermessen nur weiter eingeschränkt sei als bei gewöhnlichen Ermessensnormen ("Kann-Vorschriften"). Man wird auch einräumen müssen, dass es in der Tat Soll-Vorschriften geben kann, die vom Gesetzgeber in diesem Sinne gemeint sind. Im vorliegenden Falle zwingt eine systematische und verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes jedoch dazu, in § 25 Abs. 3 AufenthG im Regelfall einen Rechtsanspruch zu sehen. Denn nur so kann vermieden werden, dass die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei seiner Anwendung auf Altfälle mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar ist und deshalb insoweit verfassungswidrig wäre.

Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass vor Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes (01.01.2005) das behördliche Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 AsylVfG nur bestimmte asylverfahrensrechtliche Folgen hatte, darüber hinaus aber keine Tatbestandswirkung im materiellen Recht entfaltete. Deshalb konnte dieses Offensichtlichkeitsurteil auch nicht isoliert angefochten werden, wie es nach der neuen Rechtslage angenommen werden muss (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 13.04.2005 - A 11 K 11220/03). Nicht selten wurden Entscheidungen des Bundesamtes, mit denen Asylanträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden waren, entweder überhaupt nicht gerichtlich angefochten oder die Klage wurde später zurückgenommen, wenn und soweit sekundärer Flüchtlingsschutz auf der Basis des früheren § 53 AuslG gewährt wurde. Die davon betroffenen Ausländer konnten nicht wissen, dass diese Hinnahme des Offensichtlichkeitsurteils für sie nachträglich dauerhaft nachteilige materiell-rechtliche Folgen haben würde, indem ihnen die Möglichkeit verwehrt wird, eine Aufenthaltserlaubnis zu erlangen, die anderen ehemaligen Asylbewerbern nicht verwehrt wird, deren Antrag seinerzeit nur als "einfach" unbegründet abgelehnt wurde. Die nachträgliche Enttäuschung des Vertrauens in den Umstand, dass dem Offensichtlichkeitsurteil keine über das Asylverfahren hinausgehende Bedeutung zukommt, erfüllt die Bedingungen, unter denen Gesetze wegen Verletzung des Rechtsstaatsprinzips verfassungswidrig sind.

Zwar handelt es sich hier nicht um einen Fall echter Rückwirkung, denn die Regelung greift nicht freiheitsbeschränkend in einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Lebenssachverhalt ein. Sie macht vielmehr die Gewährung einer künftigen Vergünstigung, nämlich den Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis, von einem in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt abhängig. Indessen hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, dass das Rechtsstaatsprinzip nicht nur in Fällen echter Rückwirkung verletzt sein kann, sondern auch dann, wenn eine Gesetzeslage geändert wird, die zu einem bestimmten Handeln motivieren soll, das nur dann sinnvoll ist, wenn diese Regelung auch in Zukunft so weiter besteht (vgl. BVerfG, Urt. v. 23.03.1971 - 2 BvL 17/69 -, BVerfGE 30, 392). Ein solcher Fall liegt hier vor. Die betroffenen Ausländer konnten darauf vertrauen, dass das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes ausschließlich prozessuale Bedeutung hat, indem es zu einer Verkürzung der Klagefrist und zum Wegfall der aufschiebenden Wirkung der Klage führt, so dass ggf. ein gerichtlicher Eilantrag notwendig wird (§§ 74, 75 AsylVfG). Liest man § 25 Abs. 3 AufenthG als eine Ermessensnorm, so schließt die Regelung des § 10 Abs. 3 Satz 2, 3 AufenthG nunmehr jene ehemaligen Asylbewerber, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, die jedoch sekundären Flüchtlingsschutz genießen, auf Dauer von der Möglichkeit aus, eine Aufenthaltserlaubnis zu erlangen. Dieser Verletzung des Vertrauens müsste dazu führen, dass § 10 Abs. 3 Satz 2, 3 jedenfalls in diesen Altfällen für verfassungswidrig gehalten werden müsste.

Hiergegen lässt sich auch nicht einwenden, dass das besagte Vertrauen der als offensichtlich unbegründet abgelehnten Asylbewerber nicht schützenswert sein könne, weil das Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 Abs. 3 AsylVfG eine grobe Verletzung der Mitwirkungspflichten und unrichtige Angaben oder die Fälschung von Beweismitteln voraussetzt. Denn die offensichtliche Unbegründetheit kann nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG auch darauf gestützt werden, dass das Vorbringen des Ausländers in wesentlichen Punkten nicht substantiiert oder in sich widersprüchlich ist. Was die Widersprüchlichkeit angeht, so beruht diese aber, wie der erkennende Richter aus eigener Erfahrung weiß, nicht selten auf Problemen der sprachlichen Verständigung, denen nicht ausreichend nachgegangen worden ist. Mangelnde Substantiierung konnte man in der Vergangenheit schon annehmen, wenn der Asylbewerber eine Verfolgung durch nichtstaatliche Agenten vortrug, was nicht nur die völkerrechtlichen Standards der Flüchtlingsanerkennung erfüllte, sondern auch in keiner Weise mit einem betrügerischen Verhalten oder der Verletzung von Mitwirkungspflichten gleichzusetzen ist.

Es ist zwar nicht zu verkennen, dass es auch Fälle gegeben hat, in denen das Offensichtlichkeitsurteil auf Missbrauch und Betrug beruhte, so dass in diesen Fällen die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in den Bestand der Rechtslage tatsächlich fragwürdig ist. Indessen stellt § 10 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG nur formal darauf ab, dass der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt wurde, ohne weitere Differenzierungen zuzulassen. Insbesondere eröffnet er dem Gericht in dem Klageverfahren, in dem die Aufenthaltserlaubnis erstritten werden soll, nicht, das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes inhaltlich zu überprüfen.