OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.04.2006 - 9 A 3538/05.A - asyl.net: M9796
https://www.asyl.net/rsdb/M9796
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Baath, Machtwechsel, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gebietsgewalt, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Sunniten, Terrorismus, Schutzfähigkeit, Ermessen, Altfälle, Zuwanderungsgesetz, Anwendungszeitpunkt, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Sicherheitslage, Versorgungslage, medizinische Versorgung, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Erreichbarkeit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zugelassene und auch ansonsten zulässige Berufung ist begründet.

I. Die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes ist rechtmäßig.

a) Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vor.

Auf sich beruhen kann insoweit, ob der Kläger den Irak unter dem Druck erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung durch das Baath-Regime Saddam Husseins verlassen hat. Er ist vor einem Wiederaufleben der Verfolgung durch dieses frühere Regime im Irak, mithin einer gleichartigen Verfolgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97) hinreichend sicher. Das bisherige Regime Saddam Husseins hat seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren (vgl. Auswärtiges Amt (AA), ad-hoc-Information zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak vom 30. April 2003, sowie ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 7. Mai 2004 (Stand: April 2004)).

Eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und erneut (wiederholend) verfolgt.

b) Dem Kläger droht auch nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -).

aa) Vor dem Hintergrund des zuvor beschriebenen Regimewegfalls sowie mit Blick auf das zwischenzeitliche Inkrafttreten von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, wonach eine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unter bestimmten Voraussetzungen auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, a.a.O., vom 24. November 1992 - 9 C 3.92 -, a.a.O., vom 24. Juli 1990 - 9 C 78.89 -, BVerwGE 85, 266, und vom 27. April 1982 - 9 C 308.81 -, BVerwGE 65, 250; offen gelassen im Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -).

bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak derzeit und auf absehbare Zeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine - wie auch immer geartete - Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG. Das gilt sowohl für Satz 1 der Vorschrift (1) als auch hinsichtlich einer quasi-staatlichen Verfolgung (2). Eine nichtstaatliche Verfolgung des Klägers ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich (3).

(1) Eine Verfolgung durch den irakischen Staat droht dem Kläger weder im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch in der für die anzustellende Gefährdungsprognose in den Blick zu nehmenden absehbaren Zukunft. Hierbei kann auf sich beruhen, ob im Hinblick auf die fehlende inhaltliche Beschränkung der Entscheidungsbefugnisse mit der auf Grund der Parlamentswahl vom Januar 2005 gebildeten Übergangsregierung unter Ministerpräsident Al-Dschaafari sowie der Wahl Dschalal Talabanis zum Staatspräsidenten im April 2005 ein zu politischer Verfolgung fähiges Machtgebilde in dem Sinne entstanden ist, dass es eine gewisse Stabilität aufweist und die Fähigkeit zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer übergreifenden Friedensordnung besitzt (vgl. zu Letzterem: OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2004 - 9 A 3288/02.A - bezüglich der am 1. Juni 2004 gebildeten irakischen Übergangsregierung).

Selbst wenn man indes die im April 2005 gebildete Übergangsregierung oder ihre zukünftige Nachfolgerin - und sei es unter Zuhilfenahme der multinationalen Streitkräfte - als eine irakische Herrschaftsmacht im zuvor beschriebenen Sinne ansehen wollte, ist ein asylrechtserheblicher Übergriff staatlicher oder dem irakischen Staat zurechenbarer Kräfte nicht beachtlich wahrscheinlich. Hierfür lässt sich den aktuellen Erkenntnissen kein greifbarer Anhaltspunkt entnehmen (vgl. AA, Lagebericht; Deutsches Orientinstitut (DOI), Auskunft vom 6. September 2005 an das VG Magdeburg; amnesty international (ai), Auskunft vom 16. August 2005 an das VG Köln; UNHCR, Auskunft vom 6. September 2005 an das VG Stuttgart; SFH, Länderanalyse vom 27. Januar 2006).

(2) Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer dem Kläger drohenden quasi-staatlichen Verfolgung (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260, 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165) ist für den Irak derzeit und in absehbarer Zukunft ebenfalls nicht feststellbar. Nähme man zu Gunsten des Klägers an, die multinationalen Streitkräfte im Irak seien zu einer quasi-staatlichen Verfolgung in der Lage, so fehlte es vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnislage an hinreichenden Anhaltspunkten für die Annahme, etwaige von Übergriffen gegen die irakische Zivilbevölkerung Betroffene oder Zivilisten, die bei wiederholten Operationen gegen Aufständische Opfer exzessiver Gewalt werden, würden wegen asylrechtserheblicher Merkmale von dem - zu unterstellenden - Schutz ausgenommen und durch gezielt zugefügte Rechtsverletzungen aus der staatlichen Friedensordnung ausgeschlossen (vgl. hierzu AA, Lagebericht; SFH, Länderanalyse vom 27. Januar 2006).

(3) Dass dem Kläger nichtstaatliche Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben b) und c) AufenthG i.V. m. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG droht, ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich.

Auch mit Blick auf die von ihm angegebene Zugehörigkeit zu den arabischen Sunniten ist derzeit und auf absehbare Zukunft eine Verfolgung des Klägers im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nicht anzunehmen.

cc) Vor dem Hintergrund vorstehender Ausführungen ist insbesondere nicht der Auffassung des Klägers zu folgen, seine Schutzbedürftigkeit sei nicht erloschen, weil es an einer grundlegenden und dauerhaften Situationsänderung und der Herstellung von Strukturen fehle, die betroffenen Flüchtlingen wirksamen Schutz böten (vgl. in diesem Zusammenhang Nds. OVG, Beschluss vom 1. März 2005 - 9 LA 46/05 - Nds.Rpfl. 2005, 257, zitiert nach juris).

Entgegen der Auffassung des Klägers begegnet die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes auch nicht mit Blick auf die Richtlinie 2004/83 EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) rechtlichen Bedenken.

Etwas anderes ergibt sich nicht, wenn man annimmt, mitgliedstaatliche Gerichte seien schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist berechtigt, sich bei der Auslegung nationalen Rechts an den Bestimmungen einer Richtlinie zu orientieren. § 60 Abs. 1 AufenthG wäre unter Beachtung der Qualifikationsrichtlinie in seinem Kerngehalt nicht anders auszulegen als der bisherige § 51 Abs. 1 AuslG (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2005 - 11 A 533/05.A - mit näherer Begründung).

e) § 73 Abs. 2 a AsylVfG, der am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, begründet keine Rechtswidrigkeit der aus dem Jahre 2004 stammenden Widerrufsentscheidung des Bundesamtes.

aa) Die Vorschrift ist auf den streitgegenständlichen Widerrufsbescheid nicht anwendbar. Dieses neu eingeführte, mehrstufige Verfahren stellt eine zukunftsbezogene Regelung dar. § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG erteilt in den Fällen einen bindenden Auftrag an die Behörde, in denen - anders als hier - bei Inkrafttreten der Vorschrift noch keine Aufhebungsentscheidung ergangen war (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -; OVG NRW, Beschluss vom 14. April 2005 - 13 A 654/05.A -).

bb) § 73 Abs. 2 a AsylVfG ist auch nicht analog anwendbar. In Fällen der vorliegenden Art, in denen die Anerkennungsentscheidung des Bundesamtes älter als drei Jahre ist und in denen mangels bisherigen Bestehens einer Prüfungs- und Mitteilungspflicht eine Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt bisher unterblieben war, ist eine Aufhebungsentscheidung nicht allein als Ermessensentscheidung statthaft. Eine Analogie scheidet unabhängig davon aus, ob die Widerrufsentscheidung - wie hier - vor oder nach dem 1. Januar 2005 ergangen ist. Es fehlt jedenfalls an der erforderlichen Vergleichbarkeit der Interessenlage bezüglich der zur Beurteilung stehenden, im Kern wesentlich unterschiedlichen Sachverhalte.

cc) Im Hinblick auf eine Vielzahl anhängiger Asylrechtsstreitigkeiten, in denen nach dem 1. Januar 2005 ergangene Widerrufsentscheidungen des Bundesamtes streitbefangen sind, merkt das Gericht ergänzend an, dass § 73 Abs. 2a AsylVfG in direkter Anwendung auch in derartigen Fallgestaltungen keine andere Beurteilung rechtfertigt. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebungsentscheidung nach § 73 AsylVfG vorliegen, hat wegen der Zukunftsgerichtetheit des Prüfungsauftrags an das Bundesamt spätestens bis zum 1. Januar 2008 zu erfolgen. Im Übrigen kann sich der betroffene Ausländer nicht im Sinne eines subjektiv-öffentlichen Rechts auf einen Verstoß gegen die in § 73 Abs. 2 a AsylVfG festgelegte Prüfungspflicht berufen (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Dezember 2005 - 21 A 4681/05.A -, und vom 17. März 2006 - 9 A 854/06.A -; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21. 04 - (die Frage, ob die Dreijahresfrist ausschließlich öffentlichen Interessen dient, offen lassend)).

II. Der Kläger besitzt darüber hinaus keinen - als hilfsweise geltend gemacht anzusehenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2002 - 1 C 17.01 -, BVerwGE 116, 326) Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG).

3. Eine etwaige verfassungskonforme Auslegung (vgl. die Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG) des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. In Fällen der zu beurteilenden Art ist der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann nicht gesperrt, wenn eine derart extreme Gefahrenlage bestünde, dass der Ausländer bei einer Rückkehr gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wäre (Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, a. a.O.).

a) Obwohl nach der aktuellen Erkenntnislage in Teilen des Iraks die Sicherheitslage nach wie vor sehr instabil ist und auch die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrung, Trinkwasser und Strom regional zeitweise unzureichend funktioniert (vgl. AA Lagebericht; SFH, Länderanalyse vom 27. Januar 2006), ist nicht davon auszugehen, dass Rückkehrer in den Irak gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würden.

b) Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen scheidet die Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch wegen eines bestehenden anderweitigen Schutzes vor Abschiebung aus. Der erkennende Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach irakischen Staatsangehörigen auch deswegen kein Schutz vor Abschiebung in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gewährt werden kann, weil dieser Personenkreis wegen der weiterhin bestehenden nordrhein-westfälischen Erlasslage in einer den Anforderungen des § 60 a Abs. 1 AufenthG entsprechenden Weise vor Abschiebung geschützt ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2004 - 9 A 3288/02.A - m.w.N.; zur sächsischen Erlasslage Sächs. OVG, Beschluss vom 30. März 2005 - A 4 B 9/05 -, AuAS 2005, 149; vgl. zu etwaigen Rückführungen in den Irak auch Pressemitteilung Nr. 2/2006 des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 26. Januar 2006).

c) Lediglich ergänzend ist anzumerken, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch nicht im Hinblick auf eine etwaige Unmöglichkeit der Abschiebung oder der freiwilligen Ausreise in den Irak anzunehmen ist. Zum einen bestehen Flugmöglichkeiten nach C. bzw. Erbil. Zum anderen ist eine Einreise in den Irak aus der Türkei (Grenze bei Habur), über Jordanien oder aber Syrien möglich (Vgl. AA, Lagebericht).

Dessen ungeachtet führte eine etwaige Unmöglichkeit der Abschiebung bzw. der Einreise in den Heimatstaat lediglich auf eine Aussetzung der Abschiebung (vgl. § 60 a Abs. 2, Abs. 4 AufenthG), nicht aber auf ein sonstiges Abschiebungsverbot (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2004 - 9 A 3288/02.A - m.w.N.).