Dem Urteil des EuGH vom 4. Oktober 2024 (verbundene Rechtssachen C‑608/22 und C‑609/22, AH und FN gegen Österreich, asyl.net: M32737) liegen Vorlagefragen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs zugrunde. Die beiden Verfahren betrafen eine afghanische Asylsuchende, die im Jahr 2015 nach Österreich eingereist war, sowie eine weitere Antragstellerin, die nie in Afghanistan gelebt hat und 2020 im Alter von 13 Jahren einen Asylantrag in Österreich gestellt hatte. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte in den Entscheidungen aus den Jahren 2018 und 2020 keine individuelle tatsächliche Verfolgungsgefahr angenommen und daher die Gewährung des Flüchtlingsschutzes abgelehnt. Beiden Frauen war jedoch der subsidiäre Schutzstatus zugesprochen worden, im Wesentlichen mit der Begründung, dass sie in Afghanistan keine soziale Unterstützung hätten und daher den wirtschaftlichen und sozialen Problemen des Landes in besonderer Weise ausgesetzt wären. Die Klage der beiden Antragstellerinnen beim Bundesverwaltungsgericht (der ersten Rechtsmittelinstanz in Österreich) richtete sich somit allein darauf, dass auch die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden sollte. Das Gericht wies die Beschwerden ab, wogegen Revision beim Verwaltungsgerichtshof eingelegt wurde. Dabei brachten die Klägerinnen vor, dass allein schon die Situation der Frauen unter dem neuen Taliban-Regime die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertige.
Der Verwaltungsgerichtshof stellte in seiner Vorlage an den EuGH zunächst klar, dass Frauen mit afghanischer Staatsangehörigkeit insgesamt – also ohne, dass zusätzliche Merkmale wie etwa der Familienstand oder der ein bestimmter Lebensstil hinzutreten müssen – als "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne der Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der EU-Qualifikationsrichtlinie (Art. 10 Abs. 1 Bst. d dieser Richtlinie) einzustufen seien. Daneben sah er es auch als gegeben an, dass zwischen den möglicherweise drohenden "Verfolgungshandlungen" und dem "Verfolgungsgrund" der Zugehörigkeit zur "bestimmten sozialen Gruppe" eine Verknüpfung bestehe. Damit sah er eine weitere wichtige Voraussetzung der Flüchtlingsdefinition als erfüllt an. Diese in Asylverfahren häufig umstrittenen Fragen mussten hier also vom EuGH nicht erörtert werden.
"Kumulierung" von Maßnahmen als Verfolgung
Die erste Frage, die der Verwaltungsgerichtshof an den EuGH richtete, betraf die "Verfolgungsschwelle" und dabei insbesondere, wann durch eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen Verfolgung im Sinne der Flüchtlingsdefinition enstehen könne. Hier wurde der EuGH um Klärung gebeten, ob die von den Taliban gegen Frauen ergriffene Maßnahmen so gravierend seien, dass sie als "Verfolgungshandlung" (Art. 9 Abs. 1 der EU-Qualifikationsrichtlinie) einzustufen seien. Genannt wurden hier unterschiedliche Maßnahmen, darunter die Verweigerung des Zugangs zu Bildung, der fehlende Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, Einschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu medizinischer Versorgung sowie der Zwang, Körper und Gesicht in der Öffentlichkeit zu verhüllen. Zwar seien diese Maßnahmen jeweils für sich genommen noch nicht als Verfolgungshandlungen einzustufen, der EuGH wurde aber um Klärung gebeten, ob sie in ihrer Gesamtheit so gravierend seien, dass sie in ihrer "Kumulierung" das Niveau von Verfolgung im Sinne der Flüchtlingsdefinition erreichen würden (Art. 9 Abs. 1 Bst. b der EU-Qualifikationsrichtlinie).
Der EuGH bejahte diese Frage insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass die genannten Maßnahmen in jedem Fall "durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der [Charta der Grundrechte der EU] gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen." Dabei stellten insbesondere die Zwangsverheiratung, die einer nach Art. 4 EMRK verbotenen Form der Sklaverei gleichzustellen sei, und der fehlende Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt bereits schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Sinne von Art. 3 EMRK dar und seien daher schon für sich genommen als "Verfolgung" im Sinne der Flüchtlingsdefintion zu werten. Die übrigen "niedrigschwelligeren" Maßnahmen wie die Beeinträchtigung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung, zum politischen Leben, zur Bildung und zum Arbeitsmarkt, das Verbot sportlicher Tätigkeiten sowie der Zwang, vorgeschriebene Kleidung tragen zu müssen, würden demgegenüber noch nicht den "Schweregrad" erreichen, um für sich genommen Verfolgungshandlungen darzustellen. Aufgrund ihrer kumulativen Wirkung sei dieser Schweregrad aber in der Gesamtheit der Maßnahmen erreicht. In ihrer bewussten und systematischen Anwendung würden afghanischen Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten. In diesem Zusammenhang verweist der EuGH auch ausdrücklich auf die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) sowie auf das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW).
Keine Notwendigkeit der Prüfung individueller Umstände
Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts baut auf der ersten auf - hier will das Gericht wissen, ob im Rahmen der Prüfung der möglichen kumulativen Wirkung von Maßnahmen, die sich gegen Frauen im Herkunftsland richten, andere Aspekte als das Geschlecht oder die Staatsangehörigkeit einer Asylantragstellerin aus diesem Herkunftsland zu berücksichtigen sind. Gefragt wird hier also danach, ob die zuständigen Behörden und Gerichte überhaupt noch das Vorliegen einer individuellen konkreten Bedrohung der Antragstellerin prüfen müssen, wenn aufgrund der Lage im Herkunftsland davon auszugehen ist, dass sämtliche Angehörigen einer Gruppe (hier: alle afghanischen Frauen) von Maßnahmen bedroht sind, die jedenfalls in ihrer Gesamtheit das Niveau einer Verfolgungshandlung erreichen.
Hierzu verweist der EuGH besonders auf Art. 4 der EU-Qualifikationsrichtlinie, der die Anhaltspunkte aufzählt, die bei der Entscheidung über Asylanträge zu berücksichtigen sind. Dazu gehörten die mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen ebenso wie die individuelle Lage und die persönlichen Umstände der Asylsuchenden, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter. Daraus folgt laut EuGH, dass die Art und Weise, in der die zuständigen Stellen Tatsachen und Beweise prüfen müssten, den Umständen und Besonderheiten des jeweiligen Antrags anzupassen seien. Im vorliegenden Fall sei hierfür auf die "Country Guidance: Afghanistan" der Europäischen Asylagentur EUAA (Country Guidance vom Januar 2023: ecoi.net-ID 2086795, Country Guidance vom Mai 2024: ecoi.net-ID 2109450) zu verweisen. Diese komme zu dem Schluss, dass für afghanische Frauen und junge Mädchen im Allgemeinen eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingsdefinition bestehe. Auch der UNHCR habe gegenüber dem EuGH geäußert, dass bei afghanischen Frauen und jungen Mädchen zu vermuten sei, dass sie die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllten.
Unter diesen Umständen sei es "nicht erforderlich", im Rahmen des Asylverfahrens die Situation einer Asylantragstellerin aus Afghanistan zusätzlich daraufhin zu prüfen, ob ihr bei einer Rückkehr "tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen" drohten.
Mögliche Auswirkungen auf deutsche Entscheidungspraxis
Die Ausführungen des EuGH betreffen auch Fragen, die in den letzten Jahren in der deutschen Rechtsprechung diskutiert wurden: Nur in einem uns vorliegenden Urteil (VG München, Urteil vom 31.7.2023 – M 15 K 23.30228 – Asylmagazin 10-11/2023, S. 355 f., asyl.net: M31824) wurde bereits im Juli 2023 – ebenfalls unter Berufung auf die Einschätzung der Europäischen Asylagentur – von einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungssituation für alle afghanischen Frauen aufgrund systematischer Diskriminierung und massiver Menschenrechtsverstöße ausgegangen. In den übrigen uns vorliegenden Entscheidungen stützen die Gerichte demgegenüber die Flüchtlingsanerkennungen auch nach der Machtübernahme durch die Taliban regelmäßig darauf, dass die Klägerinnen aufgrund weiterer individueller Umstände von drohender Verfolgung betroffen sein – etwa weil sie alleinstehend waren und/oder weil bei ihnen aufgrund eines längeren Aufenthalts in Europa eine "Verwestlichung" eingetreten sei. Im Umkehrschluss gingen diese Gerichte also davon aus, dass nicht bei allen Frauen aus Afghanistan ohne Weiteres von einer Verfolgungsgefahr im Sinne der Flüchtlingsdefinition auszugehen sei. Die aktuelle Entscheidung des EuGH kann hier also dazu beitragen, dass die Entscheidungspraxis von Behörden und Gerichten vereinfacht wird und künftig in dieser Frage einer klaren Linie folgt.