Hinweis auf internationale Entscheidung: EuGH zur persönlichen Anhörung im behördlichen Asylverfahren

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat im Juli 2020 entschieden, dass Asylbehörden dazu verpflichtet sind, vor einer Entscheidung über einen Asylantrag eine persönliche Anhörung durchzuführen, auch wenn bereits zuvor in einem anderen EU-Mitgliedsstaat internationaler Schutz gewährt wurde. Eine Regelung des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes, wonach die Anhörung auch in einem Gerichtsverfahren nachgeholt werden kann, steht demnach nicht im Einklang mit Europarecht.

Anmerkung zur Entscheidung: EuGH, Urteil vom 16.7.2020 – C-517/17, Milkiyas Addis gg. Deutschland – asyl.net: M28645

Der Kläger des Ausgangsverfahrens beantragte in Deutschland im Jahr 2011 internationalen Schutz. Bei der Prüfung der Zulässigkeit des Asylantrags wurde festgestellt, dass er in Italien bereits als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt worden war. Daraufhin erließ das BAMF im Jahr 2013 nach dem damals geltenden § 31 Abs. 4 AsylG a. F. einen Bescheid, in dem es feststellte, dass dem Kläger kein Asylrecht zustehe. Nach erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren legte der Kläger gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts Revision beim BVerwG ein und rügte unter anderem, das Bundesamt habe vor Erlass des Bescheids nicht von einer persönlichen Anhörung absehen dürfen.

Das BVerwG beschäftigte sich zunächst mit der Frage, ob die Entscheidung des BAMF in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgedeutet werden kann. Dabei hielt es für klärungsbedürftig, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung rechtmäßig ist, wenn die in Art. 14 der VerfRL geregelte Pflicht zur persönlichen Anhörung verletzt wurde. Für die Rechtmäßigkeit spricht nach Auffassung des BVerwG, dass die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine gebundene Entscheidung ist, bei der das BAMF und die Verwaltungsgerichte ohnehin verpflichtet seien, alle Tatbestandsvoraussetzungen der Norm von Amts wegen aufzuklären.

Daneben warf das BVerwG die Frage auf, ob eine Verletzung des Anhörungsrechts auch dann relevant sei, wenn bei einem späteren Vorbringen aller Umstände im Rechtsbehelfsverfahren keine andere Sachentscheidung ergehen konnte. Für die »Heilung« des Anhörungsmangels durch eine spätere Anhörung im gerichtlichen Verfahren spreche der Rechtsgedanke des § 46 VwVfG. Demnach ist ein Anhörungsmangel unerheblich, wenn er die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.

Das BVerwG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH sinngemäß die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die deutsche Rechtslage mit Europarecht zu vereinbaren ist. Konkret lautete die Frage, ob Art. 14 VerfRL der besagten Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, wonach das Fehlen einer persönlichen Anhörung im Ausgangsverfahren nicht zur Aufhebung einer Entscheidung führt, wenn im Rechtsbehelfsverfahren die Möglichkeit bestand, alle gegen die Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen und anschließend keine andere Sachentscheidung ergehen kann.

Der EuGH entschied im Ergebnis, dass die genannte Vorschrift gegen die VerfRL verstößt: Art. 14 VerfRL verpflichte Asylbehörden dazu, Asyl­an­trag­stel­ler*in­nen vor einer Entscheidung über eine Unzulässigkeitsentscheidung persönlich anzuhören. Wird dieses Recht verletzt, muss die Entscheidung aufgehoben und an die Asylbehörde zurückverwiesen werden, auch wenn trotz des Vorbringens keine andere Entscheidung ergehen kann. Dies ergebe sich aus der grundlegenden Bedeutung der behördlichen Anhörung, für die Art. 15 VerfRL detaillierte und spezifische Bedingungen und Garantien vorsehe. Davon gelte nur dann eine Ausnahme, wenn die Anhörung im Rechtsbehelfsverfahren unter Beachtung des Art. 15 VerfRL nachgeholt werden kann.

Der Gerichtshof führte weiter aus, dass die Verpflichtung zur behördlichen Anhörung auch bei einer Unzulässigkeitsentscheidung wegen vorheriger internationaler Schutzzuerkennung in einem anderen Mitgliedstaat gilt. Denn in diesem Fall müssten Betroffene sich dazu äußern können, ob tatsächlich ein entsprechender Schutzstatus gewährt wurde und ob aufgrund der Umstände des Einzelfalls bei Rückkehr in den Schutz gewährenden Staat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta droht (unter Berufung auf die Entscheidungen zu den Rechtssachen Ibrahim – Urteil vom 19.3.2019, asyl.net: M27127 – sowie Hamed und Omar – Urteil vom 13.11.2019, asyl.net: M27836). Es sei nicht auszuschließen, dass Betroffene außergewöhnliche Umstände nachweisen könnten, die sie aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit bei einer Abschiebung dem Risiko einer solchen Verletzung aussetzen.

Der Gerichtshof begründete weiter, dass Art. 14 und 34 VerfRL mit spezifischen Garantien einhergehen, mit denen die Wirksamkeit des Rechts auf eine persönliche Anhörung gewährleistet werden. Daneben müsse nach Art. 15 Abs. 2 und 3 VerfRL bei der Anhörung eine angemessene Vertraulichkeit und die Möglichkeit der umfassenden Darlegung der Antragsgründe gewährleistet sein. Zudem stellen Art. 15 Abs. 3 Bstb. b–e VerfRL spezifische Anforderungen an die Befähigung der anhörenden und dolmetschenden Personen.

Nach Auffassung des EuGH zeigt die Detailliertheit dieser Vorschriften, dass der Anhörung eine grundlegende Bedeutung beigemessen wird, deren Einhaltung eine Voraussetzung für die Unzulässigkeitsentscheidung ist. Sie kann deshalb weder durch die Möglichkeit, sich im Rechtsbehelfsverfahren schriftlich zu äußern, noch durch eine bestehende Amtsermittlungspflicht der Asylbehörde und des mit dem Rechtsbehelf befassten Gerichts geheilt werden. Denn im deutschen Recht sei nicht sichergestellt, dass ein mit dem Rechtsbehelf befasstes Gericht alle von Art. 15 VerfRL für die persönliche Anhörung vorgeschriebenen Bedingungen garantiert. Die Verletzung der Anhörungspflicht müsse deshalb auch zur Aufhebung der Entscheidung führen.


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