Minderjährige Schutzsuchende: Ablehnung medizinischer Leistungen nur mit besonderer Begründung

Mit Beschluss vom 20. Juni 2023 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschieden, dass die Kosten für medizinisch erforderliche Behandlungen bei minderjährigen Asylsuchenden regelmäßig übernommen werden müssen. Die Kostenübernahme darf bei Minderjährigen demnach nur in Ausnahmefällen mit der Begründung abgelehnt werden, dass die medizinische Behandlung zur Sicherung der Gesundheit nicht unerlässlich sei.

Der Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 20. Juni 2023, L 8 AY 16/23 B ER - asyl.net: M31750) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der 2006 geborene Antragsteller ist georgischer Staatsbürger und leidet seit seiner Geburt an einer chronisch-progressiv verlaufenden Erkrankung. Folgen dieser Erkrankung sind Kleinwuchs, schwere Knochenwachstumsstörungen, eine Deformation des Brustkorbes sowie eine ausgeprägte mehrdimensionale Achsenfehlstellung in den Kniegelenken sowie dauerhafte, starke Schmerzen. Er benötigt einen Rollstuhl. Seine Eltern reisten mit ihm im Jahr 2022 nach Deutschland ein, um für ihn eine bessere medizinische Versorgung zu erlangen. Die Asylanträge wurden abgelehnt, die dagegen gerichtete Klage ist noch anhängig.

Die untersuchenden Ärzt*innen und das Gesundheitsamt sprachen sich für eine zeitnahe chirurgische Operation des Antragsstellers in einer Spezialklinik aus. Dadurch könne er schmerzarm bis schmerzfrei werden und unter Umständen ohne Hilfsmittel laufen. Der zuständige Landkreis lehnte die Übernahme der Kosten ab. Die Operation sei angesichts der Ausreisepflicht des Antragstellers, der Androhung der Abschiebung und des absehbar nur vorübergehenden Aufenthalts in Deutschland nicht erforderlich und auch nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich oder zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten.

Das Sozialgericht Braunschweig hat den Landkreis im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für die geplante Operation zu übernehmen. Das LSG Niedersachsen-Bremen hat diese Entscheidung nun bestätigt.

Dabei hat der erkennende Senat seine Rechtsprechung zu Leistungen für die medizinische Behandlung von Minderjährigen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz präzisiert. Danach ergebe sich aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und aus der UN-Kinderrechtskonvention, dass eine nach den hiesigen Lebensverhältnissen medizinisch erforderliche Behandlungsmaßnahme nicht pauschal mit dem Argument verweigert werden darf, dass sie nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sei. Die Behörde müsse ihre Ablehnung vielmehr besonders rechtfertigen. Dazu müsse sie in ihre Prüfung neben den Umständen des Einzelfalles auch die Qualität des betroffenen (Grund-)Rechts, das Ausmaß und die Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Deutschland einbeziehen.

Durch die Operation bestehe in diesem konkreten Fall die Aussicht, dass der Antragsteller künftig nicht mehr auf einen Rollstuhl angewiesen sei und gegebenenfalls sogar ohne Hilfsmittel schmerzarm bzw. schmerzfrei laufen könne. Nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere auch der prognostisch längeren Aufenthaltsdauer des Klägers in Deutschland, sei es sachlich nicht gerechtfertigt, dem minderjährigen Antragsteller die medizinisch dringend indizierte Maßnahme vorzuenthalten.

Claudius Voigt von der GGUA Flüchtlingshilfe in Münster hat die Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen in einer Rundmail wie folgt kommentiert:

Im Ergebnis bedeutet das: Minderjährige AsylbLG-Grundleistungsberechtigte haben grundsätzlich einen Anspruch auf Behandlung, wie sie auch die Gesetzliche Krankenversicherung vorsieht. Einschränkungen des Behandlungsumfangs sind fast immer unzulässig. Das LSG begründet dies unter anderem mit Verfassungsrecht (Art. 1 i. V. m. Art. 20 GG), mit Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention (Vorrang des Kindeswohls) und Art. 21 EU-Aufnahmerichtlinie (besondere Bedürfnisse von Schutzbedürftigen). Für volljährige Leistungsberechtigte im Asylverfahren ist das LSG Hessen bereits im Jahr 2018 ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die Krankenbehandlung grundsätzlich dem Umfang der Gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen muss (LSG Hessen, Beschluss vom 11.07.2018 - L 4 AY 9/18 B ER.). Es hat dies ebenfalls damit begründet, dass eine schlechtere Gesundheitsversorgung verfassungswidrig (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) wäre. Eine verfassungskonforme Auslegung von §§ 4 und 6 AsylbLG führe dazu, dass der Anspruch auf Krankenbehandlung dem Niveau der GKV entsprechen muss. Das heißt für die Praxis: Falls die Behörden die Kostenübernahme für eine notwendige Behandlung ablehnen sollte, die die Gesetzliche Krankenversicherung übernehmen würde, sollten dagegen auf jeden Fall Rechtsmittel eingelegt werden (Widerspruch, Klage und parallel Eilantrag).


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