Entscheidungen zu möglichen Menschenrechtsverletzungen nach Überstellungen von Schutzsuchenden in Mitgliedstaaten der Dublin-Verordnung
Beschluss des EGMR vom 16.04.2020, Nr. 16080/20 (Art. 3 EMRK)
Beschluss des EGMR vom 08.10.2019, Nr. 15428/16 (Art. 10 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2020
In diesem Fall stellte der EGMR fest, dass die Verweigerung des Zugangs eines Journalisten zu einem ungarischen Aufnahmezentrum für Asylsuchende einen Verstoß gegen die Meinungsäußerungsfreiheit darstellt.
Ein Journalist hatte bei der ungarischen Immigrationsbehörde einen Antrag auf Zutritt zum Aufnahmezentrum Debrecen gestellt, um einen Bericht über die dortigen Lebensbedingungen zu schreiben. Dort untergebrachte Personen sollten nur mit ihrem Einverständnis interviewt oder fotografiert werden. Die Presseabteilung der Behörde wies seinen Antrag ab. Dabei verwies sie auf die Persönlichkeitsrechte derjenigen, die im Lager untergebracht sind. Eine gerichtliche Prüfung konnte der Betroffene nicht erreichen.
Vor dem EGMR machte er eine Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geltend. Durch die Zugangsverweigerung sei ihm verwehrt worden, aus erster Hand über das Lager zu berichten. Daher sei sein in Art. 10 EMRK garantiertes Recht, Informationen ohne behördliche Eingriffe empfangen und weitergeben zu dürfen, verletzt worden.
Der Gerichtshof verwies zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, nach der auch die journalistische Recherche von der durch Art. 10 EMRK umfassten Pressefreiheit geschützt ist. Grundsätzlich könne allerdings auch die Beschränkung des Zugangs zum Aufnahmezentrum im Rahmen des Gesetzesvorbehalts des Art. 10 Abs. 2 EMRK zulässig sein. Demnach dürfen die Staaten gesetzliche Einschränkungen vornehmen, um die Rechte anderer Personen zu schützen. Dies sei hier der Fall, da das legitime Ziel verfolgt werde, die Privatsphäre der im Lager untergebrachten Personen zu wahren.
Andererseits bestand laut Gerichtshof an der Berichterstattung zu den Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende ein öffentliches Interesse. Dieses sei besonders relevant, wenn es um den staatlichen Umgang mit vulnerablen Gruppen gehe, da hier die Medien mit ihrer Funktion als »Wachhund« eine besondere Rolle einnehmen würden (so schon in der Rechtssache Pentikäinen gg. Finnland, Nr. 11882/10). Vorliegend seien Informationen zur Unterbringung von Schutzsuchenden in staatlichen Aufnahmezentren unstreitig als berichtenswert anzusehen. Diese Informationen seien von großer öffentlicher Bedeutung, da sie im Kontext der Frage stünden, ob internationalen Verpflichtungen gegenüber Schutzsuchenden entsprochen werde und ob die Menschenrechte dieser vulnerablen Gruppe gewährleistet würden.
Bei Angelegenheiten von öffentlichem Interesse besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wenig Spielraum für Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 2 EMRK (vgl. Rechtssache Bédat gg. die Schweiz, Nr. 56925/08). Diesbezüglich wertete der Gerichtshof rechtsvergleichende Daten aus und kam zu dem Ergebnis, dass beim Zugang zu Einrichtungen für Schutzsuchende kein europäischer Konsens bestehe. Daher könne ein etwas größerer Ermessensspielraum in Kauf genommen werden als ansonsten bei Beschränkungen von Veröffentlichungen.
Auch unter Beachtung dieses Spielraums kam der EGMR jedoch zu dem Schluss, dass die behördliche Begründung der Zugangsverweigerung nicht ausreichend war, um den Eingriff in die Pressefreiheit zu rechtfertigen. Zwar sei sie aus dem stichhaltigen Grund des Schutzes der Rechte der Untergebrachten erfolgt, doch sei nicht berücksichtigt worden, ob die Verweigerung praktisch tatsächlich notwendig war. Die Recherche sei nicht aus sensationellen oder ähnlichen Gründen beabsichtigt gewesen, sondern sollte dem Zweck dienen, im öffentlichen Interesse über die Lebensbedingungen von Schutzsuchenden und deren Behandlung durch die ungarischen Behörden zu berichten. Bei der Ablehnung des Antrags auf Zugang zur Einrichtung sei nicht berücksichtigt worden, dass insbesondere Fotos von Bewohner*innen nur mit deren Zustimmung gemacht werden sollten. Auch sei nicht begründet worden, inwiefern die geplante Recherche die Sicherheit der im Lager untergebrachten Personen gefährdet hätte.
Auch die Verfügbarkeit anderer Rechercheformen, etwa durch Informationen von Quellen außerhalb des Zentrums, rechtfertigt laut Gerichtshof nicht die Zutrittsverweigerung. Art. 10 EMRK schütze nicht nur den Inhalt der journalistischen Tätigkeit, sondern auch, welche Techniken der Berichterstattung gewählt würden. Das Interesse daran, aus erster Hand von bestimmten Situationen zu berichten, könne nicht ersetzt werden.
Grundsätzlich muss laut EGMR angesichts der Bedeutung der Medien in einer demokratischen Gesellschaft und der Berichterstattung über im öffentlichen Interesse liegende Angelegenheiten die Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit überzeugend begründet werden. Im vorliegenden Fall sei dies nicht ausreichend erfolgt. Dementsprechend stellte die Kammer des Gerichtshofs in diesem Fall einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.
Auf Antrag Ungarns wurde die Rechtssache an die Große Kammer des EGMR verwiesen.
Urteil des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts vom 5.11.2018, Az. E-504/2016 (Art. 17 Dublin-III-VO, Art. 3 EMRK)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2019:
Mit dieser Entscheidung verwies das Schweizer Bundesverwaltungsgericht (BVGer) einen Dublin-Fall zurück an die zuständige Asylbehörde, da diese nach Auffassung des Gerichts die Möglichkeit des Selbsteintritts nach der humanitären Klausel des Art. 17 Dublin-III-VO nicht ausreichend geprüft hatte.
Der Fall betrifft einen irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, der in der Schweiz Asyl beantragte. Die Schweizer Asylbehörde Staatssekretariat für Migration (SEM) lehnte den Antrag ohne inhaltliche Prüfung wegen der Zuständigkeit Bulgariens nach der Dublin-Verordnung ab und ordnete seine Überstellung an. Den Einwänden des Betroffenen, er sei in Bulgarien unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert gewesen, wurde entgegnet, dass ihm bei Rückführung als Asylsuchender keine Inhaftierung drohen würde und keine systemischen Mängel im bulgarischen Asylsystem herrschten.
Der Betroffene legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel vor dem erstinstanzlichen BVGer ein, welches zunächst im Eilverfahren den Vollzug der Überstellung aussetzte. Im Gerichtsverfahren legte der Betroffene einen medizinischen Bericht vor, welcher ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung attestierte.
Das BVGer hielt die Frage, ob in Bulgarien systemische Mängel herrschten, für irrelevant. Vielmehr stellte es darauf ab, dass die SEM versäumt hatte, zu begründen, wieso sie die Ermessensklausel des Art. 17 Dublin-III-VO im Hinblick auf die besonderen Umstände des Betroffenen nicht angewandt hatte. Diese Ermessensklausel sei immer dann zu berücksichtigen, wenn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohen könnte. Die Begründungspflicht ist laut BVGer bei Entscheidungen, die im behördlichen Ermessen stehen und Menschenrechte betreffen, streng einzuhalten. Vorliegend habe die SEM versäumt, die m.glichen Folgen einer Überstellung für den Gesundheitszustand des Betroffenen zu würdigen.
Auffassung des UN-Ausschusses gegen Folter vom 3.9.2018, Communication Nr. 742/2016 (Art. 3, 14 und 16 Anti-Folter-Konvention)
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 1-2/2019:
Der Ausschuss gegen Folter der Vereinten Nationen hat in diesem Fall festgestellt, dass die Überstellung eines Asylsuchenden, der im Herkunftsland Folter erlitten hat, aus der Schweiz nach Italien gegen die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) verstößt.
Die Anti-Folter-Konvention trat 1987 in Kraft und ist für die Staaten verbindlich, die sie ratifiziert haben. Einzelpersonen können gegen diejenigen Mitgliedstaaten, die – wie z. B. auch Deutschland – zudem nach Art. 22 CAT die Zuständigkeit der Ausschusses zur Prüfung von Einzelfällen anerkannt haben, Beschwerde einlegen (Einzelheiten siehe dimr.de unter Menschenrechtsinstrumente/ CAT).
Der Fall betrifft einen eritreischen Staatsangehörigen, der wegen seiner oppositionellen Tätigkeit in Eritrea inhaftiert, gefoltert und in Isolationshaft gehalten worden war. Nach seiner Flucht stellte er in der Schweiz 2015 einen Asylantrag und reichte medizinische Atteste ein, die bestätigten, dass er an k.öperlichen und psychischen Folgen dieser Behandlung erkrankt war, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litt und bei Überstellung Suizidgefahr drohe. Die schweizerische Asylbehörde ordnete jedoch seine Überstellung nach der Dublin-Verordnung nach Italien an. Zwei Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidung blieben erfolglos.
Im April 2016 reichte er mit der Unterstützung der Organisation Centre Suisse pour la Defense des Droits des Migrants (CDSM) Beschwerde beim UN-Ausschuss gegen Folter ein. Er machte geltend, dass er bei Überstellung nach Italien dort weder untergebracht werden würde noch Zugang zu erforderlicher spezialisierter Behandlung seiner PTBS‑Erkrankung haben würde. Seine Überstellung verstoße daher gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung nach Art. 16 CAT und daher auch gegen das Non-Refoulement-Gebot nach Art. 3 CAT. Zudem w.re ihm sein Recht auf Wiedergutmachung und Rehabilitation nach Folter aus Art. 14 CAT verwehrt.
Der Ausschuss berücksichtigte, dass der Betroffene bei Überstellung auch von seinem Bruder getrennt werden würde, der in der Schweiz ein Aufenthaltsrecht hat, was als destabilisierend eingestuft wurde. Der Ausschuss stellte fest, dass die Überstellung nach Italien gegen Art. 3, 14 und 16 CAT verstoßen würde, da der Betroffene dort keinen Zugang zur notwendigen Behandlung hätte, er kein stabiles soziales Netzwerk hätte und daher die Gefahr bestünde, dass sich sein Gesundheitszustand derart verschlechtern würde, dass Suizidgefahr bestünde.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des UNHCR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 12/2017:
Mit dieser Entscheidung stellte der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen fest, dass die Abschiebung einer Asylsuchenden und ihres Kindes von Dänemark nach Italien ohne Zusicherung von Unterbringung und Gesundheitsversorgung eine Verletzung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt, IPbpR) darstellt.
Der Zivilpakt trat 1976 in Kraft und ist für die Staaten verbindlich, die ihn ratifiziert haben. Einzelpersonen können gegen diejenigen Mitgliedstaaten, die – wie z. B. auch Deutschland – zudem das Fakultativprotokoll ratifiziert haben, nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs Beschwerde beim UN-Menschenrechtsausschuss einlegen (zu Einzelheiten siehe Handbuch »Die Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll zum Zivilpakt« des Deutschen Instituts für Menschenrechte).
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine junge Frau aus Somalia. Im August 2011 erreichte sie Italien, wo sie zunächst in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht wurde. Als sie schwanger wurde und bei Erkrankungen nicht ausreichend medizinisch versorgt wurde, reiste sie nach Schweden weiter. Dort brachte sie im Mai 2012 ihren Sohn zur Welt. Als sie erfuhr, dass sie aus Schweden nach Italien abgeschoben werden sollte, reiste sie nach Dänemark weiter, wo sie im August 2012 Asyl beantragte. Im Rahmen des Dublin-Verfahrens stellte sich heraus, dass ihr in Italien bereits subsidiärer Schutz gewährt worden war. Daraufhin drohte Dänemark die Abschiebung nach Italien als »erstem Asylstaat« an. Rechtsmittel der Betroffenen blieben erfolglos.
Am 27. Oktober 2014 legte sie eine Beschwerde beim UN-Menschenrechtsausschuss ein und machte geltend, dass ihre Abschiebung nach Italien einer Verletzung von Art. 7 UN-Zivilpakt gleichkommen würde. Sie begründete dies damit, dass ihr und ihrem Sohn in Italien unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohten, da Unterbringung, soziale Unterstützung und medizinische Versorgung nicht sichergestellt seien. Dänemark wurde noch am selben Tag aufgefordert, die Abschiebung bis zur Entscheidung des Ausschusses zu unterlassen. Dies wurde von Dänemark befolgt.
Am 28. Juli 2017 fällte der UN-Menschenrechtsausschuss seine Entscheidung. Er verweist in seiner Auffassung zunächst darauf, dass Berichte einen in Italien herrschenden Mangel an Unterkünften für Asylsuchende und insbesondere für Rückkehrende bestätigen. Dänemark müsse bei der Prüfung der Schutzbedürftigkeit nicht nur die allgemeinen Umstände für Schutzsuchende in Italien berücksichtigen, sondern auch die individuelle Situation der Betroffenen, die dazu führen könne, dass Aufnahmebedingungen bei besonderer Vulnerabilität unzumutbar seien. Die Erfahrungen von Betroffenen könnten zudem darauf hinweisen, dass sie bei Rückkehr besonderen Gefahren ausgesetzt sein könnten und dass bereits die Rückführung das Risiko einer Traumatisierung berge. Aus anderen europäischen Ländern zurückgeführte Personen seien Berichten zufolge häufig obdachlos und ohne Zugang zu sozialer Unterstützung und medizinischer Versorgung. Bei einer Rückführung der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes würde ohne einzelfallbezogene Zusicherungen eine Verletzung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung nach Art. 7 IPbpR drohen.
Der Menschenrechtsausschuss hatte sich zuvor bereits mehrfach mit der Situation von Personen befasst, die aus Dänemark nach Italien zurückgeführt werden sollten. Dabei war er zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. So stellte er im Fall einer Familie mit älteren Kindern keine Verletzung des UN-Zivilpakts fest. Die Situation dieser Familie habe sich nicht wesentlich von der anderer in Italien schutzberechtigter Familien unterschieden. Im Fall eines somalischen Ehepaars mit Kleinkindern befand er dagegen, dass durch die Rückführung eine Verletzung von Art. 7 Zivilpakt drohe. Die Familie war bereits aus Finnland nach Italien zurückgeführt worden und hatte dort keinen Zugang zu Unterbringung, medizinischer Versorgung und sozialer Unterstützung gehabt. Der Ausschuss hatte auch in diesem Fall die Rückführung nur unter der Bedingung für zulässig erklärt, dass Italien zusichere, die Familie entsprechend der Bedürfnisse der Kinder unterzubringen und zu versorgen.
Die Auffassungen des UN-Menschenrechtsausschusses sind nach überwiegender Ansicht nicht unmittelbar völkerrechtlich verbindlich. Allerdings sind die Vertragsstaaten nach allgemeinen völkerrechtlichen Regeln gebunden, die Bestimmungen des IPbpR und seines Fakultativprotokolls einzuhalten. Bei einer Verletzung der darin garantierten Rechte haben sie sich verpflichtet, den Betroffenen wirksamen Rechtsschutz und Wiedergutmachung zu gewähren.
Stellt der Ausschuss eine Paktverletzung fest, wird der jeweilige Vertragsstaat aufgefordert, die Auffassungen des Ausschusses zu veröffentlichen und innerhalb einer 90-tägigen Frist Auskunft über die zur Abhilfe ergriffenen Maßnahmen zu geben. Dieses sogenannte Follow-up-Verfahren wurde bereits 1990 eingerichtet, um die Umsetzung der Auffassungen des Ausschusses in Einzelfällen zu kontrollieren. Ein/e Sonderberichterstatter/in nimmt bei fehlender Rückmeldung Kontakt mit dem betroffenen Staat auf. Angaben über die Kooperation der Vertragsstaaten sind im Jahresbericht an die UN-Generalversammlung enthalten.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 7-8/2015:
In diesem Fall musste der EGMR erneut in einem »Dublinverfahren« prüfen, ob eine geplante Überstellung eines Asylsuchenden nach Italien gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde. Bei dem Antragsteller handelt es sich um einen syrischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, der über Griechenland und Italien in die Schweiz eingereist war und dort einen Asylantrag gestellt hatte. Die italienischen Behörden hatten dem Wiederaufnahmeersuchen der schweizerischen Behörden zugestimmt. Der Betroffene wehrte sich gegen die schweizerische Entscheidung und begründete dies damit, dass er unter einer behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung leiden würde. Er sei in Syrien verfolgt und gefoltert worden und würde in der Schweiz Behandlung erhalten. Darüber hinaus würden zwei seiner Schwestern in der Schweiz leben. Die Nähe zu seinen Schwestern trage zu seiner emotionalen Stabilität bei.
Gegenüber dem EGMR argumentierte er, dass das Aufnahmesystem für Asylsuchende in Italien systemische Mängel aufweise. Bei einer Abschiebung würde er weder eine angemessene Unterkunft noch die notwendige medizinische Behandlung erhalten. Weiterhin würde durch die Abschiebung nach Italien sein Recht auf Familienleben gemäß Art. 8 EMRK verletzt, da er von seinen Schwestern getrennt würde.
In seinem Urteil verweist der EGMR auf seine Entscheidung Tarakhel gegen die Schweiz (Nr. 29217/12, Asylmagazin 12/2014, S. 424 ff.), in dem er ernste Zweifel bezüglich der Kapazitäten des Aufnahmesystems für Asylsuchende in Italien geäußert hatte. Auf der anderen Seite hatte der Gerichtshof in dieser Entscheidung festgestellt, dass die schwierige Aufnahmesituation für Asylsuchende als solche keine Rechtfertigung darstelle, sämtliche Überstellungen nach Italien auszusetzen.
In Bezug auf den Beschwerdeführer stellte der Gerichtshof fest, dass seine Erkrankung derzeit nicht kritisch sei. Eine Einschätzung, wie schnell sich sein Gesundheitszustand verschlechtern würde und inwiefern es ihm dann gelingen würde, medizinische Hilfe in Italien zu erhalten, sei spekulativ. Derzeit würden keine Anhaltspunkte bestehen, dass der Antragsteller eine angemessene psychologische Behandlung nicht erhalten würde und er keine Anti-Depressiva erhalten könnte. Aufgrund dieser individuellen Umstände stellte der Gerichtshof fest, dass keine Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK vorliege.
In Bezug auf eine mögliche Verletzung des Rechts auf Familie gemäß Art. 8 EMRK stellte der EGMR fest, dass sich der Antragsteller vor seiner Asylantragstellung nicht in der Schweiz aufgehalten habe. Daher habe er lediglich für einen kurzen Zeitraum in der Schweiz gelebt, in dem er keine starken familiären Bindungen entwickeln konnte. Ständige Rechtsprechung des Gerichtshof sei auch, dass die Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern nur dann als Familienleben zu behandeln seien, wenn nachgewiesen würde, dass besondere Abhängigkeiten zwischen diesen Mitgliedern bestehen würden. Dementsprechend sieht der Gerichtshof im vorliegenden Fall in der drohenden Abschiebung nach Italien auch keine Gefahr einer Verletzung von Art. 8 EMRK.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 3/2015:
Der EGMR wies in dieser Entscheidung die Beschwerde eines somalischen Antragstellers gegen eine Überstellung von den Niederlanden nach Italien als unzulässig ab. Der Antragsteller war im April 2009 nach Italien eingereist und hatte dort eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des subsidiären Schutzes für drei Jahre erhalten, gültig bis August 2012. Im Mai 2009 verließ der Antragsteller Italien und reiste in die Niederlande, wo er im Oktober 2009 einen Asylantrag stellte. Dabei hatte er sowohl in Italien als auch in den Niederlanden jeweils unterschiedliche Geburtsdaten angegeben. Gegen die auf Ablehnung seines Asylantrags und Überstellung nach Italien gerichtete Entscheidung der niederländischen Behörden legte der Antragsteller Rechtsmittel ein, wobei er sich unter anderem darauf berief, dass ihm aufgrund der in Italien herrschenden Lebensbedingungen für Asylsuchende dort die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohe und er in Italien zudem der Gefahr einer Abschiebung nach Somalia ausgesetzt sei.
Der EGMR lehnte die Beschwerde maßgeblich mit der Begründung ab, dass dem Antragsteller in Italien aufgrund der dortigen Aufnahmebedingungen keine Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK drohe. Der Antragsteller gelte trotz der unterschiedlichen Altersangaben als volljährig. Da seine Aufenthaltserlaubnis in Italien bereits abgelaufen sei, müsse er zwar als Asylsuchender und damit als besonders schutzbedürftig angesehen werden. Die Situation eines alleinstehenden jungen Mannes in Italien könne jedoch nicht mit der Situation im Fall Tarakhel verglichen werden, wo es um eine Familie mit sechs minderjährigen Kindern ging (Urteil vom 4.11.2014, Asylmagazin 12/2014, S. 424 ff.). Die allgemeinen Aufnahmebedingungen in Italien seien zudem unter keinen Umständen mit den Bedingungen in Griechenland zum Zeitpunkt der Entscheidung M. S. S. gegen Belgien und Griechenland (Urteil vom 21.1.2011, asyl.net, M18077) vergleichbar. Daher seien keinesfalls alle Überstellungen nach Italien zu untersagen.
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 12/2014:
Aus den Entscheidungsgründen (inoffizielle Übersetzung des Informationsverbunds Asyl und Migration):
»[…] 75. Bei der Verhandlung am 12. Februar 2014 erklärte die Regierung, dass sie von den italienischen Behörden darüber informiert worden sei, dass die Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr nach Italien in jedem Fall in einem EFF-finanzierten Zentrum in Bologna untergebracht werden würden. Die Regierung legte keine weiteren Details vor hinsichtlich der Absprachen für die Überstellung und die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie die italienischen Behörden vorgesehen hätten. […]
B. Bewertung durch den Gerichtshof
[…] 101. Zur Prüfung dieser Klage betrachtet es der Gerichtshof als notwendig, einem ähnlichen Ansatz zu folgen wie er ihn im Urteil M. S. S. […] gewählt hatte, wobei er die individuelle Lage des Beschwerdeführers im Lichte der Gesamtsituation untersucht hat, die zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt in Griechenland herrschte. […]
103. Aus dem Urteil M. S. S. ergibt sich eindeutig, dass die Vermutung, wonach ein Mitgliedstaat des ›Dublin-‹ Systems die grundlegenden Rechte der Konvention respektiert, nicht unwiderlegbar ist. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat seinerseits entschieden, dass die Vermutung, derzufolge ein Dublin-Staat seinen Verpflichtungen aus Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nachkommt, widerlegt wird im Fall
›dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren‹ (siehe oben, Rn. 33).
104. Im Fall von ›Dublin-‹ Überstellungen kann die Vermutung, wonach ein Mitgliedstaat, der zugleich der ›Aufnahme-‹ staat ist, Artikel 3 der Konvention nachkommt, wirksam widerlegt werden, wenn »schwerwiegende Gründe für die Annahme vorgebracht wurden«, dass die Person, deren Rückführung angeordnet wurde, einer ›tatsächlichen Gefahr‹ entgegensehen würde, im Zielstaat einer Behandlung ausgesetzt zu werden, die dieser Vorschrift widerspricht.
Die Ursache der Gefahr hat keinerlei Auswirkungen auf das Schutzniveau, welches durch die Konvention garantiert wird oder durch die sich aus der Konvention ergebenden Pflichten des Staates, der die Abschiebung der Person anordnet. Er befreit diesen Staat nicht davon, eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen und die Durchsetzung der Abschiebungsanordnung auszusetzen, falls die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung festgestellt werden sollte.
Der Gerichtshof weist auch darauf hin, dass dieser Ansatz auch vom Supreme Court des Vereinigten Königreichs in dessen Urteil vom 19. Februar 2014 verfolgt wurde ([(2014) UKSC 12], siehe oben, Rn. 52).
105. Im vorliegenden Fall muss der Gerichtshof daher – vor dem Hintergrund der Gesamtsituation bezüglich der Ausgestaltung der Unterbringung von Asylsuchenden in Italien und der besonderen Situation der Beschwerdeführer – ermitteln, ob schwerwiegende Gründe für die Annahme vorgebracht wurden, dass die Beschwerdeführer im Fall der Abschiebung nach Italien der Gefahr einer Behandlung ausgesetzt wären, die Artikel 3 zuwiderläuft.
(i) Gesamtsituation bezüglich der Ausgestaltung der Aufnahme von Asylsuchenden in Italien
106. Die Gesamtsituation betreffend hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung Mohammed Hussein (a. a. O., Rn. 78) festgestellt, dass die Empfehlungen von UNHCR und der Bericht des Menschenrechtskommissars, beide veröffentlicht im Jahr 2012, auf eine Reihe von Mängeln hingewiesen haben. Laut den Beschwerdeführern sind diese »systemisch« und ergeben sich aus dem schleppenden Verlauf des Identifizierungsverfahrens, aus den unzureichenden Kapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen und aus den Lebensumständen in den zur Verfügung stehenden Einrichtungen (siehe oben, Rn. 56 bis 67). […]
(?) Kapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen
[…] 110. Der Gerichtshof merkt an, dass die Methoden, mit denen die Zahl der Asylsuchenden ohne Unterkunft in Italien berechnet wurden, umstritten sind. Ohne in die Diskussion um die Genauigkeit der verfügbaren Zahlen einzusteigen, reicht es für den Gerichtshof aus, die eklatante Diskrepanz zur Kenntnis zu nehmen, die zwischen der Zahl der im Jahr 2013 gestellten Asylanträge – diese belief sich laut italienischer Regierung zum 15. Juni 2013 auf 14 184 (siehe oben, Rn. 78) – und der in den Einrichtungen, die zum SPRAR gehören, verfügbaren Plätze besteht (9 630 Plätze), in denen – wiederum nach Angaben der italienischen Regierung – die Beschwerdeführer untergebracht werden würden (siehe oben, Rn. 76). Da sich die Summe der Antragszahlen nur auf die ersten sechs Monate des Jahres 2013 bezieht, wird darüber hinaus die Summe für das ganze Jahr wahrscheinlich deutlich höher ausfallen, wodurch die Kapazitäten der Aufnahme des SPRAR-Systems weiter geschwächt werden.
Der Gerichtshof nimmt weiterhin zur Kenntnis, dass weder die schweizerische noch die italienische Regierung geltend gemacht haben, dass die Kapazitäten des SPRAR-Systems und der CARAs zusammengenommen in der Lage wären, den Großteil, geschweige denn die komplette Nachfrage nach Unterbringung zu absorbieren.
114. Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist die aktuelle Situation in Italien in keiner Weise vergleichbar mit der Situation in Griechenland zum Zeitpunkt des Urteils in der Sache M. S. S. (a. a. O.), in dem der Gerichtshof insbesondere darauf hingewiesen hat, dass es weniger als 1000 Plätze in Aufnahmeeinrichtungen gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen, und dass die vom Beschwerdeführer beschriebenen Bedingungen extremster Verarmung in großem Maßstab vorhanden waren. Daher kann die Herangehensweise im vorliegenden Fall nicht dieselbe sein wie im Fall M. S. S.
115. Daher kann zwar die Struktur und die Gesamtsituation der Ausgestaltung der Aufnahmebedingungen in Italien für sich genommen kein Hindernis für sämtliche Abschiebungen von Asylsuchenden in dieses Land darstellen. Nichtsdestotrotz erwecken die oben dargestellten Zahlen und Fakten erhebliche Zweifel an den aktuellen Kapazitäten des Systems. Entsprechend kann nach Auffassung des Gerichtshofs die Möglichkeit nicht als abwegig verworfen werden, dass eine erhebliche Zahl Asylsuchender ohne Unterkunft bleibt oder in überfüllten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in einer gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung untergebracht werden könnte.
(ii.) Die inviduelle Situation der Beschwerdeführer
[…] 120. Mit Blick auf die aktuelle Lage des Aufnahmesystems in Italien und obwohl diese Situation nicht mit der Situation in Griechenland vergleichbar ist, die der Gerichtshof in M. S. S. untersucht hat, ist – wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat (siehe oben, Rn. 115) – im vorliegenden Fall die Möglichkeit nicht abwegig, dass eine erhebliche Zahl von Asylsuchenden, die in dieses Land abgeschoben werden, ohne Unterkunft bleibt oder in überfüllten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in einer gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung untergebracht werden könnte. Daher obliegt es den schweizerischen Behörden, Zusicherungen von ihren italienischen Amtskollegen einzuholen, dass die Beschwerdeführer bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werden, die dem Alter der Kinder angemessen sind, und dass sie als Familie zusammenbleiben können.
121. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass Familien mit Kindern nach Angaben der italienischen Regierung zu einer besonders schutzbedürftigen Kategorie zählen und normalerweise in das SPRAR-Netzwerk übernommen werden. Dieses System garantiert ihnen anscheinend Unterkunft, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Italienischkurse, die Vermittlung an soziale Dienste, Rechtsberatung, Berufsbildung, Lehrstellen und Unterstützung, um eine eigene Unterkunft zu finden (siehe oben, Rn. 86). Die italienische Regierung hat allerdings in ihren schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen keine näheren Details zu den spezifischen Bedingungen, unter denen die Behörden die Beschwerdeführer übernehmen würden, vorgelegt.
Zwar hat die Schweizerische Regierung bei der Verhandlung am 12. Februar 2014 angegeben, dass das BFM von den italienischen Behörden darüber informiert worden sei, dass die Beschwerdeführer im Fall ihrer Abschiebung nach Italien in Bologna in einer der Einrichtungen untergebracht werden würden, die aus dem EFF finanziert werden (siehe oben, Rn. 75). Angesichts des Mangels an detaillierten und verlässlichen Informationen betreffend die konkrete Einrichtung, die materiellen Aufnahmebedingungen und die Wahrung der Familieneinheit, geht der Gerichtshof gleichwohl davon aus, dass die schweizerischen Behörden keine ausreichenden Zusicherungen dafür haben, dass die Beschwerdeführer im Fall der Abschiebung nach Italien in einer Weise übernommen werden würden, die dem Alter der Kinder angemessen ist.
122. Daraus folgt, dass es eine Verletzung von Artikel 3 der Konvention darstellen würde, wenn die Beschwerdeführer nach Italien zurückgeführt würden, ohne dass die schweizerischen Behörden zuvor individuelle Garantien von den italienischen Behörden dafür erlangen, dass die Beschwerdeführer in einer Weise übernommen werden würden, die dem Alter der Kinder angemessen ist, und dafür, dass die Familie zusammenbleiben würde. […]«
Link zur Entscheidung in der Datenbank des EGMR
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 12/2014:
Im Fall Sharifi gegen Italien und Griechenland betonte der EGMR, dass die Dublin-Verordnung so anzuwenden ist, dass sie mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Zugrunde lag dem Fall eine Abschiebung einer Gruppe afghanischer Asylsuchender von Italien nach Griechenland. Der Gerichtshof verurteilte Italien wegen der Kollektivausweisung von vier Afghanen nach Griechenland (Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK). Weiterhin erfolgte die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 und Art. 13 (Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf). Griechenland wurde ebenfalls verurteilt, wobei der Gerichtshof feststellte, dass sich die mangelhaften Bedingungen im Asylverfahren und in der Unterbringung seit seinem Urteil M. S. S. gegen Belgien und Griechenland vom 21.1.2011 nicht verbessert hätten.
Im Rahmen der Anwendung der Dublin-Verordnung verbieten sich laut dem EGMR Kollektivausweisungen. Der rückführende Staat muss zudem sicherstellen, dass der aufnehmende Staat ausreichende Garantien für ein effektives Asylverfahren geben kann.