Urteil des EGMR vom 20.12.2018, Nr. 18706/16 (Art. 8 EMRK), asyl.net: M26870
Zusammenfassung aus dem Asylmagazin 3/2019:
In dieser Entscheidung befand der EGMR die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen für rechtmäßig, obwohl er »faktischer Inländer« ist, seine Straftaten lange zurückliegen und er ein Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit hat. Ausschlaggebend für die Entscheidung waren jugendstrafrechtliche Verurteilungen wegen Gewalt- und Drogendelikten bei mangelnder sozialer und wirtschaftlicher Integration. Der Beschwerdeführer wurde 1980 in Deutschland geboren und hat eine 10-jährige deutsche Tochter, die bei ihrer Mutter lebt. Seine Eltern waren aus der Türkei nach Deutschland gezogen. Nachdem seine Mutter 1982 von seinem Vater vor seinen Augen ermordet wurde, wuchs er bei seinen Großeltern auf. Er besuchte eine Sonderschule, von der er jedoch ohne Abschluss verwiesen wurde, weil er gewalttätig geworden war. 1996 wurde ihm eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Im Zeitraum zwischen 1996 und 2010 wurde er mehrmals wegen verschiedener Straftaten und insbesondere wegen Drogenhandels nach dem Jugendstraftrehct verurteilt, verbüßte Haftstrafen und unterzog sich einer Therapie wegen seiner Drogenabhängigkeit und psychischen Störungen.
Die Ausweisung nach seiner ersten Verurteilung wurde vom OVG Rheinland-Pfalz aufgehoben (Urteil vom 14.1.2005 – 10 A 11017/04.OVG – asyl.net: M6788). Das Gericht stellte fest, dem Betroffenen stehe ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 zu. Seine nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zulässige Ausweisung sei ermessensfehlerhaft erfolgt, da sein besonderes Lebensschicksal und die Drogenabhängigkeit nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt worden seien.
Nach Haftentlassung im Jahr 2014 wurde er erneut ausgewiesen mit der Begründung, von ihm ginge eine gegenwärtige und konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Mit seiner Tochter und ihrer Mutter hatte er im Jahr 2009 nur wenige Wochen zusammengelebt, bevor er erneut wegen Straftaten in Untersuchungshaft genommen worden war. Daher sah das zuständige VG die Ausweisung auch unter Berücksichtigung seines Interesses an einem Verbleib in Deutschland als verhältnismäßig an. Die Einreisesperre wurde auf fünf Jahre befristet. Diese Entscheidung wurde vom OVG aufrechterhalten und das BVerfG wies die Beschwerde ab. Nachdem ein Abschiebungsversuch 2015 wegen fehlender Dokumente gescheitert war, beantragte der Betroffene Asyl und machte die Gefahr einer Retraumatisierung geltend.
Vor dem EGMR wandte sich der Beschwerdeführer gegen die Ausweisung und führte zur Begründung an, dass ihm im Fall der Abschiebung in die Türkei eine Verletzung seines Rechts auf Privat- und Familienleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK drohe.
Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass neben dem Recht auf Privatleben im vorliegenden Fall auch das Recht auf Familienleben betroffen sei, da der Beschwerdeführer ausreichend dargelegt habe, dass er trotz seiner langjährigen Inhaftierungen eine Beziehung zu seiner Tochter aufgebaut hatte. Den daher durch die Ausweisung gegebenen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben befand der EGMR jedoch für rechtmäßig.
Bei der Ausweisungsentscheidung seien die Bleibeinteressen des Beschwerdeführers ausreichend berücksichtigt worden. Es sei in Betracht gezogen worden, dass er in Deutschland geboren und immer hier gelebt habe, dennoch sei er vor allem wirtschaftlich keineswegs integriert, da er keine Ausbildung habe, nie berufstätig gewesen sei und weitestgehend von Sozialleistungen gelebt habe. Obwohl der Beschwerdeführer seit 2009 keine Straftaten mehr begangen hat, seine Drogenabhängigkeit und psychologischen Probleme offenbar bewältigt hat und eine Schulausbildung abgeschlossen hat, befand der EGMR auch die individuelle Gefahrenprognose angemessen, derzufolge die Begehung weiterer Straftaten zu befürchten sei. In der Entscheidung ging der Gerichtshof nicht näher darauf ein, dass es sich bei den Verurteilungen des Betroffenen um Jugendstrafen handelte.
Der EGMR stellte zudem fest, dass eine Abschiebung in die Türkei zwar Auswirkungen auf seine Tochter haben würde, dass er aber seine Beziehung zu ihr weiterhin aufrechterhalten könne. So seien verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten gegeben, sie könne ihn in der Türkei besuchen, er könne Betretenserlaubnisse für Deutschland beantragen und seine Einreisesperre sei auf fünf Jahre befristet. In Bezug auf die frühkindliche Traumatisierung des Beschwerdeführers befand der EGMR, dass diese auch in der Türkei behandelbar sei und die Gefahr einer Retraumatisierung nicht ausreichend dargelegt worden sei. Angesichts der mehrfachen Verurteilungen des Betroffenen wegen vielfacher, teilweise auch gewaltsamer Straftaten und allgemein der besonderen Schwere von Drogendelikten sei der Eingriff in seine Rechte verhältnismäßig.