VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 20.01.1998 - 7 K 232/98 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13368
Leitsatz:
Schlagwörter: Jugoslawien, Kosovo, Albaner, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgungsprogramm, Vertreibung, Wehrdienstentziehung, Desertion, Strafverfolgung, Politmalus, Amnestie, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Einreise, Befragung, Misshandlungen, Einreiseverweigerung, Rückübernahmeabkommen, Abschiebungshindernis, Folgeantrag, Prüfungsumfang, Schutz von Ehe und Familie, Verlöbnis, Eheschließungsfreiheit, Duldung, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 123; AsylVfG § 71; GG Art. 6; VwVfG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Der Antragsteller begehrt den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Abschiebung einstweilen auszusetzen und ihm eine vorläufige Duldung zu erteilen.

Vorab ist festzustellen, daß es sich bei dem hier zu beurteilenden Begehren nicht um eine Streitigkeit nach dem Asylverfahrensgesetz handelt, also die §§ 76, 78 und 80 AsylVfG keine Anwendung finden. Die Kammer folgt insoweit der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und gibt aus Gründen der einheitlichen Rechtsanwendung ihre bisher vertretene gegenteilige Auffassung auf.

Der zulässige Antrag ist nicht begründet.

Insoweit gelangt das Gericht zur Auffassung, daß das Bundesamt den (Asyl-)Folgeantrag des Antragstellers im Ergebnis zu Recht als nicht verfahrensrelevant angesehen hat.

So ist das Gericht in Übereinstimmung mit der einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung der Auffassung, daß albanische Volkszugehörige in Jugoslawien, namentlich im Kosovo, allein aus ethnischen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch zum jetzigen Zeitpunkt keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt sind. Ungeachtet der Frage der Asylrelevanz im Einzelfall begründet die Zahl der in den bis heute vorliegenden Erkenntnismitteln berichteten Übergriffe nicht eine solche quantitative Dichte von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber der auch heute noch deutlich über einer Million anzusetzenden albanischen Bevölkerung im Kosovo, wie sie für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlich ist.

Das Gericht vermag aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel auch keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm feststellen, welches jeden ethnischen Albaner im Kosovo in seiner physischen Existenz, seiner körperlichen Unversehrtheit oder seiner aktuellen Freiheit bedroht und dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht. Hinreichend sichere Anhaltspunkte dafür, daß der serbische Staat über die unzweifelhaft vorhandenen zahlreichen Benachteiligungen der Albaner hinaus ein Vernichtungs- oder Vertreibungsprogramm ins Werk setzten will, das darauf abzielt, zumindest einen großen Teil der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo zu vertreiben oder gar auszurotten, bestehen nach Ansicht des Gerichts nicht.

Auch soweit der Antragsteller sich in seinem Folgeantrag auf eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder Desertion beruft, ist dieses Vorbringen nicht i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG relevant. Denn das Gericht ging und geht in ständiger Rechtsprechung, in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung schon davon aus, daß eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung zu keinem Zeitpunkt Asylrelevanz hatte und hat. Denn die Heranziehung zum Wehrdienst und die damit im Zusammenhang stehende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung stellen nicht schlechthin eine politische Verfolgung dar, sondern nur dann, wenn sie neben der Erfüllung einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht bzw. der Ahndung kriminellen Unrechts auch darauf gerichtet sind, den Betroffenen wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder einem sonstigen asylerheblichen Merkmal zu treffen. Derartige Umstände sind jedoch nach den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht gegeben, insbesondere war und ist ein sog. Politmalus bei Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nicht feststellbar.

Im übrigen hat der Antragsteller - entgegen seiner Auffassung - nach Inkrafftreten des Amnestiegesetzes in der Bundesrepublik Jugoslawien - abgesehen davon, daß die obergerichtliche Rechtsprechung keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung bejaht hat - nunmehr aber auch keine strafrechtliche Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung (mehr) zu befürchten. Da der Antragsteller keiner der Gruppen zuzurechnen ist, die von der Amnestieregelung ausgenommen sind, muß er ungeachtet des Umstandes, daß auch eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nach der bisherigen Rechtsprechung nicht asylerheblich war, mit einer Bestrafung nicht (mehr) rechnen, weshalb sein Vorbringen von vornherein ungeeignet ist, die Verfahrensrelevanz seines Folgeantrags zu begründen.

Dies gilt auch für das Vorbringen des Antragstellers bezüglich nach Restjugoslawien zurückkehrender Asylbewerber. Diese müssen nach ständiger Rechtsprechung der Kammer, die in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung steht, allein wegen der Stellung eines Asylantrags keine Repressionen befürchten und sind bei einer Rückkehr in die Bundesrepublik Jugoslawien auch ansonsten keinen asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt.

Zwingende Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG liegen nicht vor.

Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 8 EMRK kommt schon aus Rechtsgründen nicht in Betracht, denn Abschiebungshindernisse wegen Wahrung der Familieneinheit im Bundesgebiet sind nicht zielstaatsbezogen und deshalb nicht im Rahmen von § 53 AuslG zu prüfen. § 53 AuslG erfaßt nämlich ausschließlich Gefahren, die dem Ausländer im Zielland der Abschiebung drohen.

Das Gericht vermag auch kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG festzustellen. Dem Antragsteller droht in der Bundesrepublik Jugoslawien keine extreme Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, die ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG begründet. Insbesondere würde er im Kosovo nicht gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert.

Im Falle des Antragstellers liegen auch nicht die Voraussetzungen des § 55 Abs. 3 AuslG vor, wonach u.a. eine Duldung erteilt werden kann, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Das Gericht vermag derartige Gründe jedoch hier nicht festzustellen. Solche Gründe ergeben sich nicht schon daraus, daß der Antragsteller im Bundesgebiet mit seiner Lebensgefährtin, einer italienischen Staatsangehörigen, und deren Kindern aus erster Ehe zusammenlebt.

Der Abschiebung des Antragstellers steht hier nach den konkreten Umständen Art. 8 EMRK nicht entgegen. Zwar kann sich aus der Anwendung des Art. 8 EMRK unter bestimmten Voraussetzungen die Unzulässigkeit einer Abschiebung ergeben. Voraussetzung ist jedoch, daß durch die Abschiebung das nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens berührt wird und daß die Abschiebung nicht auf den Eingriffsvorbehalt nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gestützt werden kann. Selbst wenn man davon ausgeht, daß neben der Familie grundsätzlich auch jede andere von der staatlichen Rechtsordnung anerkannte Gemeinschaft von Eltern und Kindern von Art. 6 Abs. 1 GG und damit auch von Art. 8 EMRK geschützt ist, sofern zwischen den Beteiligten als Folge eines länger andauernden Verhältnisses eine gewachsene Bindung entstanden sein kann und eine solche enge dauerhafte Bindung besteht, ergibt sich jedenfalls aufgrund der vorliegenden Umstände hier trotzdem kein Abschiebungshindernis zugunsten des Antragstellers. Denn der bei dem vorliegenden Sachverhalt mit einer Abschiebung des Antragstellers verbundene Eingriff in das nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht ist vom Eingriffsvorbehalt nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt. Der Eingriff ist "vom Gesetz vorgesehen" (§§ 49 und 50 AuslG), ihm liegt ein nach Art. 8 Abs. 2 EMRK als rechtmäßig anerkanntes Ziel zugrunde (die Abschiebung dient der zwangsweisen Durchsetzung der durch die rechtskräftige Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers begründeten vollziehbaren Ausreisepflicht) und er ist unter den hier gegebenen konkreten Umständen "in einer demokratischen Gesellschaft" zum Schutze dieses Zieles "notwendig". Denn was das Verhältnis des Antragstellers zu seiner Lebensgefährtin betrifft, steht derzeit - schon nach seinem eigenen Vortrag - nicht fest, ob und wann es zu einer Heirat kommen kann. Die Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und Familie geht aber hinsichtlich der sog. Eheschließungsfreiheit nicht soweit, dem ausreisepflichtigen Ausländer den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, um hier eine Ehe schließen zu können. Eine ernsthaft beabsichtigte Eheschließung kann zwar unter engen Voraussetzungen ein zeitweiliges vorläufiges "Bleiberecht" für die Dauer des Eheschließungsverfahrens begründen, weil Art. 6 Abs. 1 GG auch das Recht schützt, eine Ehe zu schließen, und die Rechtswirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen mit zu würdigen sind. Dieses vorläufige zeitweilige "Bleiberecht" kann die Ausreiseverpflichtung aber nur für einen Zeitraum entfallen lassen, der äußerstenfalls die Zeit umfaßt, die üblicherweise das standesamtliche Verfahren bei einer Eheschließung braucht. Ist der Zeitpunkt der beabsichtigten Eheschließung ungewiß, so ist die Eheschließungsfreiheit dagegen in der Regel gewahrt, wenn dem Ausländer das kurzfristige Betreten des Bundesgebiets zum Zwecke der Eheschließung ermöglicht wird.

Letztlich ist noch zu berücksichtigen, daß Art. 8 EMRK nicht dahin interpretiert werden kann, daß er dem Vertragsstaat generell die Verpflichtung auferlegt, die Wahl des gemeinsamen Aufenthalts einer Familie in allen Fällen zu respektieren und eine Familienvereinigung in seinem Staatsgebiet zu bewilligen, d.h. Art. 8 EMRK hat nicht den Zweck, den angenehmsten Ort, an dem eine Familiengemeinschaft gelebt werden kann den Betreffenden zur Wahl zu lassen. Vielmehr steht dem Staat beim Ausgleich der gegenläufigen privaten und öffentlichen Interessen ein Beurteilungsspielraum zu. Die Ablehnung des Familiennachzugs stellt deshalb keinen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK dar, wenn der Ausländer die Möglichkeit besitzt, zum Zwecke der Familienzusammenführung in sein Heimatland zurückzukehren. Sollte es deshalb in absehbarer Zeit nicht möglich sein, daß der Antragsteller wieder in das Bundesgebiet zurückkehrt, so hätte es seine italienische Lebensgefährtin selbst in der Hand, zur Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft dem Antragsteller zu folgen oder aber nach Italien zu gehen, denn es sind keine Umstände ersichtlich und vorgetragen, daß ihr dies unmöglich oder unzumutbar wäre. Letztlich kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß es sich bei den Kindern der Lebensgefährtin des Antragstellers nicht um seine eigenen Kinder handelt.