VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 11.02.1998 - 35 A 3314.97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13374
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Bosnier, Moslemisch-kroatische Föderation, Sanski Most, Serben, Duldung, Schriftform, Grenzübertrittsbescheinigung, Auflagen, Arbeitserlaubnis, Arbeitsverbot, Pass, Herausgabe, Abschiebungshindernis, Abschiebungspraxis, Rückübernahmeabkommen, Übernahmeersuchen, Wohnraum, Registrierung, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: AuslG § 55 Abs. 2; VwGO § 123 Abs. 1; AuslG § 42 Abs. 6
Auszüge:

Nach § 55 Abs. 2 AuslG wird einem Ausländer u.a. eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Dem zeitweiligen Charakter der Duldung entsprechend genügt eine nur vorübergehende Unmöglichkeit der Abschiebung, wenn sie im Einzelfall längere, nicht absehbare Zeit dauern kann. Daher ist eine Duldung grundsätzlich auch dann zu erteilen, wenn die Abschiebung zwar möglich ist, die Ausreisepflicht des Ausländers aber nicht ohne Verzögerung durchgesetzt werden kann (BT-Drucksache 11/6321 S. 76 zu § 55). Die Ausländerbehörde hat also nicht nur zu untersuchen, ob die Abschiebung des Ausländers überhaupt durchgeführt werden kann, sondern auch zu prüfen, innerhalb welchen Zeitraums dies möglich ist (OVG Berlin, Beschluß v. 2. Dezember 1997 - OVG 8 S. 59.97 -). Wenn sie die Abschiebung nicht innerhalb des üblichen Zeitraums durchsetzen kann, ist eine Duldung zu erteilen (BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 3.97 -).

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Abschiebung der Antragsteller derzeit nicht absehbar.

Zum einen können derzeit nach Angaben des Antragsgegners wöchentlich allenfalls bis zu zehn Personen nach Bosnien-Herzegowina auf dem Luftweg abgeschoben werden, wobei diese Zahl in der Vergangenheit fast nie erreicht wurde (Januar 1998: nur zwei Abschiebungen). Bei mehr als 20.000 in Berlin aufhältlichen ausreisepflichtigen Bosniern bedeutet dies, daß sich die Abschiebung des einzelnen Flüchtlings unter Umständen um mehrere Jahre verzögert, mithin derzeit keinesfalls absehbar ist. Soweit der Antragsgegner im vorliegenden Fall einen Flug mit der Schweizer Fluggesellschaft Swissair über Zürich gebucht hat und den Eindruck zu erwecken sucht, es handele sich dabei um eine Abschiebung, ist dem entgegenzuhalten, daß von dieser Fluggesellschaft nur freiwillige Rückkehrer transportiert werden (Auskunft der Schweizerischen Luftverkehr AG, Büro Berlin, an die Kammer vom 11. Dezember 1997; ebenso Auskunft der Senatsverwaltung für Inneres vom 16. Januar 1998 - III B 23-0331/1031 - auf die Kleine Anfrage Nr. 3217 vom 29. Dezember 1997 des Abgeordneten Kosan). Der Flugtermin ist also für die Frage, ob eine Abschiebung absehbar ist, nicht relevant.

Zum zweiten dürfte auch bislang die nach Art. 4 Abs. 3 S. 2 des Rückübernahmeabkommens vom 20. November 1996 erforderliche - fiktive - Zustimmung der bosnischen Behörden zur Übernahme nicht vorliegen, so daß auch aus diesem Grunde die Abschiebung unmöglich ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer (vgl. zuletzt Beschluß vom 9. Februar 1998 - VG 35 F 10.98-) steht moslemischen und kroatischen Flüchtlingen aus dem serbischen Teil Bosniens (Republik Srpska) ein Duldungsanspruch wie im Tenor beschrieben zu, weil sie in ihre Herkunftsorte nicht zurückkehren können und vor einer Beendigung ihres Aufenthalts nur durch eine ausdrückliche Zustimmung oder vergleichbare Regelung sichergestellt ist, daß sie im Fall einer Rückkehr untergebracht und versorgt werden. Diese Grundsätze sind entsprechend auch im Fall der Antragsteller anzuwenden, die als Serben ebenfalls nicht in ihren im moslemischen Teil der Föderation liegenden Herkunftsort zurückkehren können.

Da die Aussetzung der Abschiebung auf den Wohnraum- und Versorgungsengpässen in Bosnien-Herzegowina und damit auf humanitären Gesichtspunkten und völkerrechtlichen Rücksichtnahmen außerhalb der dem Ausländer selbst zuzurechnenden Umstände beruht, kann der damit aus § 55 Abs. 2 i.V.m. § 54 AuslG resultierende Anspruch der Antragsteller nur dadurch erfüllt werden, daß ihnen entsprechend dem Schriftformerfordernis des § 66 Abs. 1 S. 1 AuslG eine schriftliche Duldung ausgestellt wird, denn nach dem Ausländergesetz gibt es keine stillschweigende Aussetzung der Abschiebung (allgemeine Auffassung, vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 1997 - 1 C 3.97 -, S. 8 f. der Urteilsabschrift; Kanein/Renner, AuslR, 6. Aufl. § 56 AuslG Rdnr. 10; Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, 1. Aufl. 1991, S. 291). Vielmehr ist die Duldung die einzige im Ausländergesetz vorgesehene Möglichkeit der Aussetzung der Abschiebung (vgl. Bamberger, Ausländerrecht und Asylverfahrensrecht, München 1995, Rdn. 360). Insbesondere sind die bloße Verlängerung der Ausreisefrist (§ 42 Abs. 3 S. 3 AuslG) oder die Ausstellung einer Paßeinzugs- oder Grenzübertrittsbescheinigung kein rechtlich zulässiges Instrument, um humanitäre Gesichtspunkte im Heimatland zu berücksichtigen, weil dafür allein die Duldung nach § 55 Abs. 2 i.V.m. § 54 AuslG bzw. nach § 55 Abs. 3 AuslG vorgesehen ist (nahezu auch einhellige Meinung der Landesinnenminister, vgl. z.B. Schreiben des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommern vom 10. Januar 1997 - II 800-217.211-S5/2 -).

Die Kammer hat als Mindestzeitraum für die Erteilung einer vorläufigen Duldung neun Monate festgelegt, weil die Rückführungsvoraussetzungen voraussichtlich nicht früher vorliegen werden. In diesem Fall könnte aber ggf. die Duldung widerrufen werden. Nach der bislang ständigen Rechtsprechung der Berliner Verwaltungsgerichtsbarkeit ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine zeitliche Vorgabe für die zu erteilende Duldung nicht nur zulässig und üblich, sondern zum Zwecke der Vollstreckbarkeit (§ 168 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) letztlich sogar zwingend geboten.

Für die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis sind vom Antragsgegner in mehreren Parallelverfahren sachliche Gründe weder dargelegt worden noch sonst erkennbar.

Zwar ist es grundsätzlich zulässig, aus einwanderungspolitischen Gründen die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu versagen, um keinen zusätzlichen Anreiz zur illegalen Einreise aus wirtschaftlichen Gründen zu schaffen.

Für Flüchtlinge aus der Republik Srpska, die allein aus humanitären Gründen wegen der Verhältnisse in ihrem Herkunftsland weiter geduldet werden (das Abschiebungshindernis folglich nicht selbst zu beseitigen in der Lage sind) und jahrelang über eine ausländerrechtliche Arbeitserlaubnis verfügt haben, widerspricht jedoch das nunmehr eingeführte generelle Arbeitsverbot nach Abschnitt II., 1., 1.1. der Weisung B 54.1 des Leiters der Ausländerbehörde bei summarischer Prüfung den Grundsätzen der Menschenwürde und der Verhältnismäßigkeit (GK-AuslR 36, II - § 56 Rdnr. 13).