OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.02.1998 - 2 L 166/96 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13384
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Kurden, PUK, Mitglieder, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Gebietsgewalt, Schutzbereitschaft
Normen: GG Art. 16a
Auszüge:

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 4. Juni 1996 verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen.

Die Klägerin hat den Irak unter dem Druck politischer Verfolgung verlassen und die Umstände, die sie seinerzeit zur Flucht veranlaßt haben, bestehen auch gegenwärtig noch. Dabei ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auf das individuelle Verfolgungsschicksal der Klägerin abzustellen und nicht auf eine Gruppenverfolgung der Kurden im Irak.

Es fehlt ab Herbst 1991 an jeglichen Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung der Kurden in den autonomen Provinzen. Aber auch in den nach wie vor von der Zentralregierung kontrollierten Gebieten nördlich des 36. Breitengrades, d.h. vornehmlich im Bereich von Mosul, fand allenfalls noch 1991 eine gezielte politische Verfolgung der Kurden unter Anknüpfung an ihre Ethnie statt.

Es liegen keine Erkenntnisse dafür vor, daß die irakische Zentralregierung versucht, ihre Staatsgewalt auf die autonomen Kurdenprovinzen auszudehnen. Angesichts der verfügbaren Erkenntnisse über die derzeitige Lage teilt der Senat nicht die vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung (noch) vertretene Auffassung, es sei mit einem Wiederaufleben einer sich auf alle Angehörigen der kurdischen Volksgruppe erstreckenden politischen Verfolgung zu rechnen.

Die Klägerin kann sich dagegen auf individuelle Verfolgungsgründe berufen.

In Übereinstimmung mit den vor dem Bundesamt gemachten Angaben hat die Klägerin in ihrer Anhörung vor dem Senat widerspruchsfrei und glaubhaft geschildert, seit 1991 Informationen für die PUK beschafft zu haben. Sie habe sich mit den Zielen dieser Partei identifiziert und Informationen über militärische Anlagen und Einrichtungen in Mosul gesammelt und weitergegeben. Nach Verhaftung des für ihre Arbeitsgruppe in Mosul Verantwortlichen sei bei ihr zu Hause von arabisch sprechenden Männern nach ihr gefragt worden. Sie habe daraus geschlossen, daß es sich um Mitglieder des Geheimdienstes gehandelt habe, die nach ihr gefahndet hätten. Deshalb habe sie sich sofort versteckt und sei nach wenigen Tagen über die Türkei nach Deutschland ausgereist.

Es ist nachvollziehbar, daß die Klägerin allein aufgrund dieser Umstände um ihr Leben fürchtete, denn nach allen vorliegenden Erkenntnissen müssen Personen, die nach Überzeugung der irakischen Sicherheitsdienste dem Regime gegenüber kritisch eingestellt sind, mit politischer Verfolgung rechnen. Diesem Personenkreis droht nicht nur eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, sondern auch Gefahr für Leib und Leben. Wenn den irakischen Behörden bekannt geworden ist, daß die Klägerin für eine - verbotene - oppositionelle Organisation (PUK) Informationen über militärische Anlagen beschaffte, sie selbst also in Opposition zur Zentralregierung stand, drohte ihr nicht nur Folter, sondern - schon bei legaler Anwendung des irakischen Strafgesetzbuches - die Todesstrafe. Davon abgesehen kommt es im Irak auch zu extralegalen Exekutionen.

Dem Anspruch der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte kann nicht entgegengehalten werden, daß ihr zum Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden habe.

Als inländische Fluchtalternative kommen für irakische Kurden die kurdischen Provinzen im Nordosten des Landes in Betracht.

Obwohl der irakische Staat bei Ausreise der Klägerin (Anfang 1996) keine Gebietsgewalt über die kurdischen Provinzen ausübte, fand auch dort politische Verfolgung durch diesen Staat statt. Nach den vorliegenden Berichten waren auch in dieser Region irakische (Staats-)Spitzel oder Agenten und Kollaborateure tätig und es wurden Bombenanschläge durchgeführt, die u.a. gegen Einrichtungen der irakischen Opposition, die von der autonomen Region aus operierte, gerichtet waren. Außerdem gibt es Hinweise auf Hinrichtung und Vergiftung (vermeintlicher) Oppositioneller durch (vermutlich) irakische Agenten. Daß auch die Klägerin Ziel eines solchen Anschlages hätte werden können, folgt aus ihren Aktivitäten in Mosul, die den irakischen Stellen bekannt geworden sein dürften.

Anschläge dieser Art sind als politische Verfolgung zu qualifizieren, obwohl der irakische Staat in dieser Region keine Gebietsgewalt hatte. Zwar wird grundsätzlich für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung die effektive Gebietsgewalt des Staates im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit vorausgesetzt. Wenn auch in den autonomen kurdischen Provinzen eine Gebietsgewalt des Staates, zu dem sie gehören, bei Ausreise der Klägerin nicht vorhanden war, geht es um Ausübung staatlicher Macht innerhalb eines staatlichen Territoriums, und zwar auch dann, wenn die Machtausübung sich terroristischer Methoden bedient. Daher stellt eine an asylerhebliche Merkmale anknüpfende Verfolgung irakischer Staatsbürger in den kurdischen Provinzen des Nordirak politische Verfolgung i.S.v. Art. 16 a Abs. 1 GG dar.

An einer hinreichenden Sicherheit der Klägerin vor erneuter politischer Verfolgung fehlte es ferner - wie die Vorgänge im Spätsommer 1996 bestätigt haben - wegen der jederzeit drohenden Gefahr eines Einmarsches irakischer Regierungstruppen in die autonomen Kurdenprovinzen und der daraus sich ergebenden - 1996 auch praktizierten - Möglichkeit, Oppositionelle gezielt zu verfolgen.

Schließlich ist bei Beantwortung der Frage, ob die Klägerin in Irakisch-Kurdistan vor erneuter Verfolgung durch den irakischen Staat hinreichend sicher war, zu berücksichtigen, daß Schutzsuchende dort wegen der Abgrenzung zum übrigen Staatsgebiet zwar dem ungehinderten Zugriff irakischer Sicherheitsdienste entzogen waren, es aber an einem - andeweitigen - staatlichen Schutz vor Verfolgung in dieser Region fehlte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Subsidarität des Asyl im Ausland mit der prinzipiellen Schutzgewährung durch den eigenen Staat zu begründen, d.h. in der Zufluchtsregion muß der Staat oder eine staatsähnliche Gewalt eine Friedensfunktion ausüben. Ein Asylanspruch in Deutschland bestünde demnach nicht, wenn Irakisch-Kurdistan als Quasi-Staat fähig gewesen wäre, auf seinem Territorium die Klägerin vor politischer Verfolgung durch irakische Stellen zu schützen. Das war nicht der Fall.

Zwar war im Spätsommer 1995 zwischen der PUK und der KDP vereinbart worden, das kurdische Regionalparlament wieder einzuberufen und eine Koalitionsregierung auf breiter Basis zu bilden, doch bestand zu der Zeit in dieser Region immer noch ein Machtvakuum, in dem sich die rivalisierenden irakisch-kurdischen Verbände bekämpften. Der Eintritt stabiler staatlicher Strukturen wurde zusätzlich dadurch behindert, daß diese Region - wie auch heute noch - der türkisch-kurdischen PKK, den Volksmudjaheddin und iranisch-kurdischen Einheiten als Rückzugsgebiet dient, auch wenn sie dort immer wieder von türkischen und iranischen Interventionstruppen bekämpft werden.

Auch für den Fall einer Rückkehr in ihr Heimatland ist die Klägerin vor erneuter politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher. Dabei kann dahinstehen, ob diese Rückkehr in den von der irakischen Zentralregierung kontrollierten Teil des Iraks oder nach Irakisch-Kurdistan erfolgte. In beiden Teilen des Irak haben sich die politischen Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin nicht wesentlich verändert. Zwar mag es zutreffen, daß Personen bei einer Rückkehr in die von KDP und PUK beherrschten Gebiete im Nordirak allein wegen eines längeren Aufenthaltes oder Asylantragstellung nicht mit Verfolgung seitens der irakischen Zentralregierung zu rechnen haben und dies auch auf einfache Mitglieder dieser Parteien zutrifft, doch war die Klägerin - wie ausgeführt - als Oppositionelle besonders ins Blickfeld der irakischen Stellen geraten. Für sie könnte sich nachteilig auswirken, daß nach Aufhebung der von der irakischen Zentralregierung verhängten Wirtschaftsblockade über die kurdischen Provinzen ein reger Verkehr zwischen den Kurdengebieten und den zentralen Teilen des Irak herrscht und sich dadurch die Infiltrationsmöglichkeiten für irakische Sicherheitsdienste vergrößert haben.