OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.02.1998 - 25 A 107/98.A - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13386
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Sippenhaft, Familienangehörige, Ehegatte, Eltern, Kinder, Geschwister, Berufungszulassungsantrag, Divergenzrüge
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2
Auszüge:

Die Abweichungsrüge gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG greift nicht durch.

Das gilt zunächt für die Rüge, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Urteil vom 26. April 1998 - 9 C 28.86 -, BVerwGE 79, 244 abgewichen, indem es Sippenhaft von einem Bruder abgeleitet habe (S. 6 f des Urteilsabdrucks). Das Verwaltungsgericht hat sich insoweit die ständige Senatsrechtsprechung zu eigen gemacht, wonach sich Sippenhaft im allgemeinen auf nahe Angehörige (Ehegatten, Eltern, Kinder ab 13 Jahren, Geschwister) von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen erstreckt, die dort durch Haftbefehl gesucht werden.

Diese Rechtsprechung steht mit der vorzitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der Auffassung des Bundesbeauftragten im Einklang. In dieser und in mehreren anderen Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht aus Art. 16 a Abs. 1 GG den Rechtssatz abgeleitet, daß dann, wenn in einem Verfolgerstaat Fälle asylrechtlich relevanter Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Ehegatten und/oder minderjährigen Kindern eines politisch Verfolgten festgestellt worden sind, eine widerlegliche Vermutung dafür besteht, daß Angehörige der jeweiligen Verwandtschaftskategorie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in dessen Verfolgung einbezogen werden. Diese unmittelbar aus Art. 16 a Abs. 1 GG abzuleitende Vermutung gilt allerdings nicht für sonstige Familienangehörige, insbesondere nicht für Geschwister, weil sich nur diejenigen Personen, die dem Verfolgten besonders nahestehen, in einer besonderen potentiellen Gefährdungslage befinden, der gerecht zu werden Art. 16 a Abs. 1 GG gebietet.

Für das Herkunftsland Türkei bedeutet dies, daß die fragliche Vermutungsregel unter diesem Gesichtspunkt nur für diejenigen Ehegatten und minderjährigen Kinder eines politisch Verfolgten streitet, der als Aktivist einer militanten staatsfeindlichen Organisation von den türkischen Sicherheitskräften per Haftbefehl gesucht wird. Ähnlich verhält es sich in bezug auf das Lebensalter minderjähriger Kinder.

Aber nicht nur diese sachlichen und persönlichen Einschränkungen, die der Senat für die Ableitung von Sippenhaft in der Türkei entwickelt hat, stehen mit der vorstehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einklang. Dasselbe gilt vielmehr auch für Annahme, daß neben den Angehörigen der sog. Kleinfamilie im allgemeinen auch Eltern und Geschwister des politisch Verfolgten von Sippenhaft bedroht sind. Ein Widerspruch zu dem soeben wiedergegebenen Vermutungsrechtssatz, den das Bundesverwaltungsgericht unmittelbar aus Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleitet hat, ist schon deswegen ausgeschlossen, weil es sich bei jener Annahme des Senats entgegen der Auffassung des Bundesbeauftragten nicht um einen allgemeinen, aus Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleiteten und daher herkunftslandübergreifend geltenden Rechtssatz für das Verfolgerland Türkei handelt, die zu treffen im Asylprozeß ausschließlich den Tatsacheninstanzen und angesichts des Rechtsmittelsystems des § 78 AsylVfG vor allem den Oberverwaltungsgerichten und den Verwaltungsgerichtshöfen obliegt. Ein Rechtssatz des Inhalts, daß sich Sippenhaft unter keinen denkbaren tatsächlichen Umständen auf andere Familienangehörige als Ehegatten und minderjährige Kinder erstrecken kann, ist der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung ebensowenig zu entnehmen wie ein Rechtssatz des Inhalts, daß außerhalb der aus Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleiteten rechtlichen Sippenhaftvermutung auch eine tatsächliche Vermutung für die Einbeziehung in die einem anderen drohende Verfolgung ausscheidet.

Im Gegenteil ist das Bundesverwaltungsgericht in seinen zur Sippenhaftvermutung ergangenen Entscheidungen stets davon ausgegangen, daß die Tatsacheninstanzen unabhängig vom Eingreifen jener Vermutung berechtigt sind, die individuelle Situation des jeweils klagenden Asylbewerbers zu prüfen und zu würdigen. Diese Prüfung kann ergeben, daß insbesondere auch Geschwister eines politisch Verfolgten von Sippenhaft bedroht sind, sofern die über das jeweilige Herkunftsland herangezogenen Erkenntnisquellen die Annahme rechtfertigen, daß auch jener Personenkreis mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muß, selbst nach Art einer Geisel staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.