OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.01.1998 - 23 A 2793/96.A - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13390
Leitsatz:
Schlagwörter: Liberia, Familienangehörige, Vater, Ermordung, Haft, Abschiebungshindernis, Situation bei Rückkehr, Menschenrechtswidrige Behandlung, Bürgerkrieg, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Gefahrenbegriff, Auslegung, Politische Entwicklung, Friedensabkommen, Abuya II, Demobilisierung, ECOMOG, Wahlen, Versorgungslage, Existenzminimum, Hilfsprogramme, Extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist ausschließlich die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG vor einer Abschiebung nach Liberia hat.

Ein Abschiebungshindernis ergibt sich zunächst nicht aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK.

Der Kläger muß bei einer Rückkehr nach Liberia nicht mit einer individuell-konkret drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung rechnen.

Der erkennende Senat hat bereits in der Vergangenheit - bezogen auf die tatsächliche Lage in Liberia im Frühjahr 1996 - das Vorliegen einer Gefahrensituation im Sinne des § 53 Abs. 4 i.V.m. Art. 3 EMRK bei einem Aufenthalt in Liberia generell, jedenfalls aber bei einer Rückkehr in den Großraum der Hauptstadt Monrovia, verneint.

Ob in der Folgezeit aufgrund der Kämpfe in Monrovia im April/Mai 1996 und der bewaffneten Auseinandersetzungen in anderen Landesteilen im weiteren Verlauf des Jahres 1996 eine andere Beurteilung geboten gewesen wäre, kann offenbleiben.

Jedenfalls droht dem Kläger nach der im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung gem. § 77 Abs. 1 S. 1, erster Halbsatz AsylVfG maßgeblichen Sachlage, die durch die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse und allgemeinkundige Tatsachen (§ 173 VwGO i.V.m. § 291 ZPO) belegt wird, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die individuell-konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Diese Feststellung gilt zunächst in bezug auf die Möglichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch staatliche Organe Liberias. Die früher durch den 1990 ausgebrochenen und mittlerweile beendeten Bürgerkrieg geprägte innenpolitische Lage in Liberia hat sich grundlegend gewandelt.

Am 17. August 1996 wurde in der Hauptstadt Nigerias unter Vermittlung der ECOWAS (Economic Community of West African States) das Abuja II-Abkommen geschlossen. Hieran waren die früheren liberianischen Milizenführer beteiligt. Dieses mit Sanktionsmöglichkeiten versehene Abkommen sieht im wesentlichen die Einstellung der Kampfhandlungen, die Entwaffnung der Milizen und die Herstellung demokratisch legitimierter Strukturen, insbesondere die Durchführung freier Wahlen, vor.

Der militärische Teil des Abuja II-Abkommens ist überwiegend umgesetzt.

Zwar ist die Entwaffnung wohl noch nicht vollständig gelungen. Noch immer werden Waffenverstecke in Liberia vermutet und auch entdeckt. Die Demilitarisierung ist aber dennoch als weitreichend zu bewerten. Weitere Auseinandersetzungen zwischen den früher kriegführenden Parteien sind auch im zeitlichen Umfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Sommer 1997 ausgeblieben.

Zwar haben die liberianischen Ordnungsbehörden bislang wohl keine umfassende Exekutivgewalt entwickeln können. Staatliche Strukturen - Polizei, Justiz, Verwaltungswesen u.a. - befinden sich erst im Wiederaufbau. Deshalb werden die Sicherheitsfunktionen im Land weitgehend durch die Verbände der ECOMOG gewährleistet.

Unabhängig davon, ob die Ordnungsgewalt der ECOMOG-Truppen dem liberianischen Staat zuzurechnen oder als eigenständige staatsähnliche Funktion zu bewerten ist, kann jedoch nichts dafür erkannt werden, daß die ECOMOG liberianische Staatsangehörige unmenschlich oder erniedrigend behandeln würde. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Es gibt keine Berichte von Übergriffen der ECOMOG-Truppen auf liberianische Zivilisten, vielmehr kam es seit dem Abschluß der Entwaffnungskampagne nicht mehr zu Aktionen bewaffneter Verbände (der früheren Milizen) gegen die Bevölkerung.

Eine staatlich veranlaßte, geduldete oder geförderte Bestrafung bzw. erniedrigende Behandlung der ehemaligen Mitglieder der Bürgerkriegsmilizen allein wegen der Teilnahme an den kämpferischen Auseinandersetzungen findet nicht statt.

Der politische Teil des Abuja II-Abkommens ist mittlerweile ebenfalls im wesentlichen umgesetzt.

Am 19. Juli 1997 wurden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchgeführt.

Bei den Präsidentschaftswahlen siegte Charles Taylor mit einer absoluten Mehrheit von rund 75% der abgegebenen Stimmen. Er kann sich auf eine ähnlich breite Mehrheit seiner Partei, der National Patriotic Party, in beiden Häusern des Parlaments stützen. Charles Taylor wurde am 2. August 1997 als 21. Präsident Liberias vereidigt. Er hat die ehemaligen politischen Gegner zur Zusammenarbeit aufgerufen, Kabinettsposten auch an die Opposition vergeben und die Einrichtung einer Kommission zur Überwachung der Menschenrechte zugesichert.

Nach dem vorstehend Dargelegten und bei einer Gesamtschau der dem Senat vorliegenden Erkenntnisse ist daher eine dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuell-konkret drohende Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 4 AuslG, in einem durch Art. 3 EMRK geschützten Gut verletzt zu werden, nicht gegeben.

In Liberia besteht auch nicht landesweit eine derart extreme allgemeine Gefahrenlage, die jeden liberianischen Staatsangehörigen bei einer Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde mit der Folge, daß mit Blick auf die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG geboten wäre.

Der Senat verkennt bei dieser Feststellung nicht, daß die Lebensumstände in Liberia zur Zeit schwierig sind.

Das Existenzminimum ist jedoch gewahrt. Die Versorgungslage der Zivilbevölkerung ist zwar angespannt. Eine Hungersnot besteht aber nicht. Fälle von schwerer Unterernährung sind nur vereinzelt registriert worden.