OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.1998 - 20 A 6552/95.A - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13396
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, Religiös motivierte Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Misshandlungen, Entführung, Erpressung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Menschenrechtswidrige Behandlung, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Bürgerkrieg, Taliban, Dostum, Gefahrenbegriff, Extreme Gefahrenlage, Auslegung, Existenzminimum
Normen: AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Die Klage ist, soweit sie sich auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG richtet, nicht begründet.

Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) wegen der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung setzt voraus, daß dem Ausländer im Zielland der angedrohten Abschiebung - hier also in Afghanistan - eine derartige Mißhandlung durch den Staat oder eine staatsähnliche Organisation droht.

Dies ist in Afghanistan mangels staatlicher oder quasi-staatlicher Strukturen nicht der Fall; aus dem gleichen Grund ist auch kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 AuslG gegeben, weil "Folter" ebenfalls von einem Staat oder einer staatsähnlichen Herrschaftsmacht verantwortet werden muß.

In Afghanistan besteht zur Überzeugung des Senats weiterhin - im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung und auf absehbare Zeit - keine zentrale, sämtliche Regionen des Landes übergreifende Staatsmacht, die in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ordnungsrechtlicher Hinsicht eine gesamtstaatliche Friedensordnung durchsetzen und erhalten könnte. Auch regional gesehen mangelt es nach wie vor an gesellschaftlich-politischen Strukturen, die als staatsähnliche (Friedens-)Ordnung anzuerkennen wären.

Für das Gebiet der Taliban, für das allein die Herausbildung einer staatsähnlichen Organisation in Betracht zu ziehen ist, ist zwar nicht zweifelhaft, daß die Taliban effektive Strukturen zur Durchsetzung der von ihnen proklamierten Form des Islam geschaffen haben. Jedoch erfüllt nicht jede Organisation, die in einem Gebiet mit Waffengewalt Herrschaftsmacht ausübt, die Voraussetzungen quasi-staatlicher Herrschaft. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Anwendbarkeit rechtsstaatlich-demokratischer Kategorien - für die eher monolithisch strukturierten Taliban von Anfang an zu verneinen - kein zwingendes Erfordernis der Staatsähnlichkeit eines Regimes darstellt, verbleibt die von den Taliban praktizierte "Ordnung" doch nach ihrem Selbstverständnis in einem vorstaatlichen Stadium. Die beabsichtigte militärische Niederwerfung ihrer Gegner und die konsequente Umsetzung islamischen Rechts, wie sie es verstehen, sehen sie als bloße Vorbedingung eines gleichsam von selbst entstehenden Gottesstaates - einer umfassenden Friedensordnung ihrer Prägung -, der von einer erst noch zu bildenden Regierung unter Beteiligung aller Ethnien getragen werden soll; an der Macht selbst sind die Taliban (vorgeblich) nicht interessiert.

Abgesehen hiervon fehlt es der Gebietsgewalt der Taliban an der für staatsähnliche Organisationen erforderlichen Stabilität und Dauerhaftigkeit.

Die Macht der Taliban ist nach außen wie nach innen wesentlich gefährdet.

Solange in einem andauernden Bürgerkrieg die verfeindeten Machtträger um die Eroberung des ganzen Landes mit militärischen Mitteln kämpfen und der Untergang eines jeden der bestehenden Herrschaftsbereiche jederzeit möglich erscheint, fehlt es an der zu fordernden Stabilität und Dauerhaftigkeit der dort jeweils ausgeübten Gebietsgewalt.

Da Tatsachen im Sinne des § 53 Abs. 2 und 3 AuslG ersichtlich nicht vorliegen und § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG kein eigenständiges Abschiebungshindernis enthält, ist lediglich noch Abschiebungsschutz gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG in Betracht zu ziehen. Allerdings erfaßt § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen.

Die von den Klägern als fluchtauslösend geschilderte und bei einer Rückkehr nach Afghanistan erneut befürchtete Gefahrensituation ist eine solche allgemeiner Art im Sinne des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG. Das gilt zunächst für die Gefahr, im Bürgerkrieg unmittelbar durch Kampfhandlungen oder deren mittelbare Auswirkungen - etwa durch den Mangel an Lebensmitteln, Wohnraum und gesundheitlicher und sozialer Infrastruktur - zu Schaden zu kommen. Die Furcht der Kläger, wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt zu werden, ist ebenfalls nicht individuell begründet; sie betrifft die hinduistische Bevölkerung Afghanistans insgesamt und damit eine Bevölkerungsgruppe.

Opfer dieser Verfolgungsmaßnahmen wird der einzelne aus Gründen, die er mit vielen anderen teilt; betroffen sind die Mitglieder einer bestimmten Glaubensgemeinschaft. Sowohl die Gefahrensituation als auch das Fluchtschicksal trifft viele gleichermaßen. Das Betroffensein hängt zwar von dem persönlichen religiösen Bekenntnis - bzw. der entsprechenden Zurechnung aus der Sicht des Verfolgers - ab, erstreckt sich aber, was für eine "Bevölkerungsgruppe" im Sinne des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG ausschlaggebend ist, nicht nur auf einzelne, sondern eine Vielzahl von Personen mit gleichem Merkmal, als deren Teil der einzelne für die Verfolger bzw. für den Aufnahmestaat in Erscheinung tritt. Die Kläger gehören als afghanische Hindus einem Personenkreis an, zu dem mehrere tausend Mitglieder gehören. Er bildet eine religiöse Minderheit in Afghanistan, die überwiegend aus ihrem Heimatland geflohen ist, weil sie sich schutzlos der Verfolgung durch die islamische Bevölkerungsmehrheit bzw. die islamischen Machthaber ausgesetzt sah. Das Gruppenschicksal der Kläger zeigt sich deutlich daran, daß sie sich zur Flucht gerade aus der Furcht entschlossen haben, das Verfolgungsschicksal sonstiger Hindus stehe auch ihnen bevor.

Die allgemeinen Gefahren für die Bevölkerung in Afghanistan insgesamt oder für bestimmte Bevölkerungsgruppen, denen die Kläger zuzurechnen sind, vor allem für die Hindus, haben sich ausweislich der vorliegenden, in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel nicht in einem Maße verdichtet, daß von einer extremen Gefahrenlage ausgegangen werden könnte, die trotz ihres allgemeinen Charakters ausnahmsweise Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG begründen könnte.

Die Zugehörigkeit der Kläger zur hinduistischen Religionsgemeinschaft führt zu keinem abweichenden Ergebnis; Hindus sind nicht wegen ihrer Religion einer signifikant größeren Gefährdung ausgesetzt als die übrige Bevölkerung, die ganz überwiegend dem islamischen Glauben anhängt. Die traditionellen Wohnorte der Hindus sind seit der Einnahme Kabuls durch die Taliban in deren Hand, so daß für die Beurteilung einer Rückkehrmöglichkeit auf die Situation im Taliban-Gebiet abzuheben ist. Nachweisbare, als repräsentativ anzusehende Belegfälle für eine spezifische Gefährdung von Hindus im Einflußgebiet der Taliban sind bis in die jüngste Zeit hinein nicht bekannt geworden.

Insbesondere liegen keine greifbaren Tatsachen vor, die es als beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, Hindus seien schutzlos dem Zugriff einer religiös fanatisierten Bevölkerung preisgegeben. Die Taliban beanspruchen das Gewaltmonopol in dem von ihnen beherrschten Gebiet strikt für sich und haben die allgemeine Sicherheitslage der Bevölkerung - auf Kosten der individuellen Freiheit - erheblich verbessert; kriminelle Übergriffe wie Plünderungen, Geiselnahmen und Vergewaltigungen werden nur vereinzelt berichtet. Die materielle Situation der Hindus, auch derjenigen, die aus dem Ausland zurückkehren, dürfte keinen Anreiz für Übergriffe mehr bieten.