VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 05.02.1998 - M 27 K 97.53221 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13426
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Nordirak, Kurden, Abschiebungsschutz, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Illegale Ausreise, Interne Fluchtalternative, Situation bei Rückkehr, Freiwillige Ausreise, Reisedokumente, Bewaffnete Auseinandersetzungen, Versorgungslage, Existenzminimum
Normen: AuslG § 51
Auszüge:

Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit rechtmäßig, als er die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak feststellt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Denn schon wegen der illegalen Ausreise und des Asylantrages im Ausland müssen Iraker nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen auch bei freiwilliger Heimkehr landesweit mit politischer Verfolgung rechnen.

Im Irak wird illegaler Auslandsaufenthalt mit dem das Tatbestandsmerkmal politischer Verfolgung erfüllenden Strafmaß von fünf bis fünfzehn Jahren Freiheitsentzug bedroht.

Die Asylantragstellung als solche ist zwar kein eigener Straftatbestand, wird aber wegen der damit zwangsläufig verbundenen Distanzierung vom Herkunftsstaat unter die Straftatbestände der Verunglimpfung des Staates und seines Oberhauptes subsumiert, welche außerdem unverhältnismäßig scharf, bis hin zu extralegalen Verstümmelungen und Exekutionen, verfolgt werden. Eine inländische Fluchtalternative ist bisher nicht gesehen worden.

Inzwischen haben jedoch die Beklagte (z.T.), vor allem aber der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten, dieser wegen der seit September 1996 stark angewachsenen Zahl irakischer Asylbewerber, die bisherige Einschätzung hinsichtlich der irakischen Asylbewerber aus den kurdischen Provinzen unter Berufung auf neuere Lageberichte des Auswärtigen Amtes geändert.

Bei freiwilliger Rückkehr in den Nord-Irak über einen der angrenzenden Staaten sei nicht mit Aufdeckung der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung durch die irakischen Behörden zu rechnen.

Dieser der dem Kläger und der Beklagten bekannten obergerichtlichen Rechtsprechung (BayVGH v. 15.6.1989 - 24 BZ 89.30149 -, S. 7 d.A.) zuwiderlaufenden Ansicht wird nicht gefolgt. Denn die zu den repressivsten gehörende irakische Regierung verfügt im gesamten Irak auch nach dem verlorenen Golfkrieg und dem von den USA erzwungenen Rückzug irakischer Truppen aus dem Nordirak im September 1996 über das wohl engmaschigste und effizienteste Spitzel- und Geheimdienstsystem außerhalb des ehemaligen Ostblocks mit mehreren 100.000 hauptamtlichen Kräften. Diesem werden zahlreiche Tötungen in Kurdistan zur Last gelegt. Deshalb würden die Umstände der Heimkehr kurdischer Asylbewerber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in ihrem Umfeld bekannt werden und bei sich bietendem Anlaß zur Verfolgung führen.

Vorliegend erfolgte die Ausreise ohne Paß. Da somit bei einer irakischen Auslandsvertretung ein Paß beschafft werden müßte, um für die Einreise in den Nord-Irak die erforderlichen Visa der zwischenliegenden Staaten zu erhalten, könnten schon deshalb die Flucht und die Asylantragstellung den irakischen Behörden nicht verborgen bleiben. Auf deutsche Paßersatzpapiere für Flüchtlinge kann nicht verwiesen werden, weil solche Ausweise keine Rechtsansprüche auf Transitvisa vermitteln. Ob aufgrund solcher Papiere bisher von Drittstaaten, gelegentlich oder auch häufig der Transit nach dem Nordirak zugelassen oder einfach nur nicht bemerkt wurde, ist ohne Belang. Asylbewerber müssen sich auf eine rechtlich nicht abgesicherte Rückreise nicht einlassen, solange keine verbindlichen Erklärungen der Transitstaaten vorliegen, daß deutsche Ersatzausweise akzeptiert werden.

Darauf, welche statistische Wahrscheinlichkeit für das Bekanntwerden von Nachfluchtgründen und asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen besteht, falls ein Asylbewerber nach illegaler Ausreise und Asylantragstellung in den Machtbereich irakischer Stellen gerät, kommt es nicht an. Wenn die Gesamtumstände des Falles die reale Möglichkeit politischer Verfolgung wie vorliegend ergeben, kann bei möglichen schwerwiegenden Eingriffen (mehrjährige Haftstrafe, Verstümmelung, Exekution, s.o.) eine Rückkehr nicht zugemutet werden.

Insgesamt hängt somit die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung allein davon ab, ob in den Nord-Irak zurückkehrende Asylbewerber in den Machtbereich von Organen der irakischen Regierung gelangen, oder ob sie dort auf absehbare Zeit deren Zugriff entzogen und somit auch sonst hinreichend sicher sind.

Beides ist nicht der Fall.

Die vom Auswärtigen Amt und dem Rheinland-Pfälzischen Oberverwaltungsgericht (v. 27.5.1997 - 7 A 10719/97 OVG) neuerdings gesehene inländische Fluchtalternative im Nord-Irak bzw. der VN-Schutzzone besteht nicht wirklich. Asylsuchende sind in diesen Gebieten nicht hinreichend vor dem irakischen Staat zuzurechnender politischer Verfolgung sowie vor anderen, gleich ernsten Gefahren und Nachteilen (vgl. BVerfG v. 24.3.1997 - BvR 1024/95 - in Beilage 9 zu NVwZ - Nr. 9/97) sicher.

Daß der Irak dort keine Hoheitsgewalt ausübe, nachdem er seine Truppen 1996 zurückgezogen hat, ist eine zu einfache Sicht. Vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß im Nordirak nichts geschieht, was dem Bagdader Regime nicht ins Konzept paßte:

Der irakische Geheimdienst ist dort nach wie vor zu Gewaltaktivitäten fähig und übt solche auch aus, so daß zu befürchten bleibt, daß sich von ihm gesuchte Personen seinem Zugriff nicht entziehen können. Auch trifft es nicht zu, daß der irakischer Diktator seine Hoheitsansprüche über den Nord-Irak und die VN-Schutzzonen aufgegeben hat. Vielmehr hat er allenfalls seine Armee - möglicherweise nur die durch Satelliten- bzw. Luftüberwachung identifizierbaren Truppen mit schweren Waffen - und diese nur unter dem Druck der USA abgezogen.

Daß die Armee dort noch nicht wieder einmarschiert ist, beruht nicht darauf, daß sie zu schwach oder daß ein nochmaliges bewaffnetes Eingreifen der USA zugunsten der Schutzzonen wahrscheinlich wäre. Einer Besetzung Kurdistans als solcher durch irakische Kräfte würden die USA vielmehr kaum etwas in den Weg legen. Es ist dem Irak nicht verboten, Bodentruppen in die kurdischen Provinzen zu entsenden. Grund für das Eingreifen der USA im September 1996 waren erklärtermaßen beim Vormarsch auf Arbil festgestellte Verstöße gegen die UN-Resolution 688 (welche den Irak nur zur Wahrung der Menschenrechte und des internationalen Friedens, nicht aber zum Truppenabzug verpflichtet), vor allem die Hinrichtung von 96 Regimegegnern.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Kurdenprovinzen besteht auch deshalb nicht, weil die vom Auswärtigen Amt aufgrund der Abwesenheit der Armee konstatierte Sicherheit vor politischer Verfolgung jedenfalls nicht auf absehbare Zeit, gewährleistet ist. Daß für die Zukunft ein nochmaliges Eingreifen der USA nicht zu erwarten ist, erscheint aufgrund deren Erklärungen 1996 wahrscheinlich, sofern Saddam Hussein sich auf (wie auch 1996 ausreichende) Bodentruppen beschränkt, schwere Waffen nur gegen bewaffnete Kräfte einsetzt und Verfolgungsmaßnahmen, anders als beim damaligen Feldzug, nicht gleichsam vor den Augen der Weltöffentlichkeit durchführt.

Heimkehrenden Nordirakern drohen schließlich im vom Auswärtigen Amt als sicher bezeichneten Nordirak andere Nachteile, welche in ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, so daß auch aus diesem Grund Asylbewerber aus dem Nord-Irak nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden können: In den nordirakischen Provinzen finden nach wie vor Kämpfe zwischen rivalisierenden Parteien statt, dazu massive Einsätze der Türkei und des Iran (s.o.). Das Gebiet ist auch katastrophal unterversorgt, besonders in medizinischer Hinsicht. Die dem Irak möglichen Lebensmitteleinkäufe aus Erdölerlösen kommen den Kurden nicht zugute. Kinder und Mütter von Säuglingen sind zum großen Teil unterernährt. Humanitäre Hilfe gibt es kaum. Insgesamt, besonders auch in bezug auf Unterkünfte, ist das zum Überleben Unerläßliche nicht sichergestellt. Im allgemeinen ist dort auf Dauer kein Leben möglich, welches nicht zu Hunger, Elend und schließlich zum Tode führt, einer Entwicklung welche der Zentralregierung sowie den Nachbarstaaten wegen des allen lästigen Kurdenproblems gelegen kommt und die deshalb vom Irak gefördert wird.