OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 23.01.1998 - 1 L 525/97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13428
Leitsatz:
Schlagwörter: Tunesien, Al-Ittijah Al-Islami, En Nahda, Mitglieder, Flugblätter, Haft, Folter, Terrorismus, Terrorismusbekämpfung, Asylausschluss
Normen: GG Art. 16a
Auszüge:

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a GG zu.

Im vorliegenden Verfahren stellt sich die Frage nach der Abgrenzung einer unter den Schutzbereich des Art. 16 a GG fallenden "politischen" Verfolgung durch den Staat im Verhältnis zu den davon nicht erfaßten legitimen staatlichen Maßnahmen der Strafverfolgung im Zuge der Terrorismusbekämpfung. Weder die zur Verurteilung des Klägers führende Mitgliedschaft in Ennahdha noch sein Engagement bzw. seine Betätigung für die Ziele dieser Partei führen zum Ausschluß seines Anspruches auf Gewährung von Asyl.

Während insoweit das BVerwG früher davon ausging, daß eine Strafbarkeit wegen aktiver politischer Betätigung zum Schutz des Staates oder seiner Einrichtungen grundsätzlich keine politische Verfolgung begründet, ist nunmehr durch das BVerfG geklärt, daß der Schutzbereich des Art. 16 a Abs. 1 GG nicht nur die politische Gesinnung als solche und ihre Bekundung, sondern grundsätzlich auch ihre Betätigung umfaßt (BVerfG, Beschl. v. 10.7.1989, a.a.O.). Auch Maßnahmen, mit denen ein Staat staats- oder regierungsfeindliche Aktivitäten mit strafrechtlichen Sanktionen bekämpft, um das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder der politischen Identität zu verteidigen, kann grundsätzlich asylrechtsbegründende politische Verfolgung sein.

Die vom BVerfG vorgenommene "Kehrtwendung" von der früheren Konzeption, nach der grundsätzlich auf die für die Verfolgung maßgeblichen Gründe abzustellen war und demnach der politisch legitime Schutz der territorialen Integrität und der staatlichen Sicherheit nicht als asylrelevant angesehen wurde, bedarf allerdings eines Korrektivs, sollen nicht Verhaltensweisen einen Asylanspruch begründen, die angesichts des humanitären Kerns des Asylrechts nicht als schutzwürdig angesehen werden können. Die Rechtsprechung des BVerfG fordert daher, um derartigen staatlichen Maßnahmen gleichwohl den Charakter politischer Verfolgung zu nehmen, zusätzliche, an objektive Umstände anknüpfende Kriterien.

Wichtigstes Abgrenzungskriterium ist dabei der Rechtsgüterschutz. Die staatliche Verfolgung von Straftaten, die sich gegen die Rechtsgüter anderer Bürger richten, ist regelmäßig keine politische Verfolgung (Verfolgung "gewöhnlichen" kriminellen Unrechts). Gleiches gilt regelmäßig dann, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, daß die Verfolgung einer sich gegen ein politisches Rechtsgut richtenden Tat nicht der mit dem Delikt betätigten politischen Überzeugung als solcher gilt, sondern einer in ihm zum Ausdruck gelangenden zusätzlichen kriminellen Komponente, deren Strafwürdigkeit der Staatenpraxis geläufig ist. Schließlich ist es regelmäßig nicht asylbegründend, wenn die staatliche Strafverfolgung der - legitimen - Terrorismusbekämpfung dient.

Nach diesen - vom BVerfG so weiter entwickelten - Grundsätzen wird der Kläger "politisch" verfolgt. Dabei bedarf es keiner Klärung durch den Senat, ob es sich bei der Ennahdha tatsächlich um eine radikal-religiöse, undemokratische und auch gewaltbereite bzw. gewalttätige Organisation handelt, die im Gegensatz zur tunesischen Verfassung steht und aufgrund des tunesischen Parteiengesetzes von 1988 rechtmäßigerweise nicht als Partei zugelassen worden ist. Davon dürfte allerdings nach den Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes auszugehen sein.

Als Beleg für die Gewaltbereitschaft der Ennahdha wird der Putschversuch im Februar 1991 angeführt. Am 17. Februar 1991 hätten militante islamistische Gruppen auf ein Parteibüro der Regierungspartei RCD (Rassemblement Constitutionel Démocratique) in Tunis einen Überfall verübt. Diese islamistische Gruppe wird dergestalt umschrieben, daß "allgemein von Anhängern der Ennahdha-Bewegung" gesprochen werde. Bei dem Überfall wurde ein Wächter getötet. Zwei weitere Wächter hätten lebenslange Verletzungen erlitten. An Gebäuden sei erheblicher Sachschaden entstanden. An dieses Ereignis hätten sich umfangreiche Verhaftungswellen gegen Ennahdha-Mitglieder angeschlossen. Demgegenüber hat der Kläger daran festgehalten, daß die Ennahdha sowohl nach dem ihm bekannten Parteiprogramm als auch nach dem Erscheinungsbild in seiner Heimatstadt Douz keineswegs gewaltbereit bzw. gewalttätig gewesen sei. Die Ennahda habe vielmehr keinerlei Gewalt angewendet, sondern den politischen Dialog gepflegt. Ob diesen Angaben des Klägers in dieser Allgemeinheit gefolgt werden kann, bedarf keiner Entscheidung. Jedenfalls hat der Kläger nach der Überzeugung des Senats glaubhaft bekundet, daß er selbst nicht einem gewaltbereiten Flügel der Ennahda zugehört und er sich selbst auch nicht an terroristischen Aktionen gegen den tunesischen Staat beteiligt hat.

Dieser Annahme steht nicht die Verurteilung des Klägers durch das Appelationsgericht Gabes vom 26. Februar 1992 entgegen. Zum einen ist das Urteil gegen den Kläger in seiner Abwesenheit verhängt worden. Zum anderen ist dem strafgerichtlichen Urteil nicht ein konkreter Tatvorwurf zu entnehmen, der als ein Einsetzen des Klägers für terroristische Ziele bewertet werden kann. Zwar lautet der Hauptvorwurf dahin, daß er Mitglied einer Gruppierung sei, die sich die Vorbereitung von Angriffen auf Personen und Besitztümer zum Ziel gesetzt habe. Angeführt wird insoweit "eine Reihe von schwerwiegenden Beschädigungen an öffentlichem und privatem Eigentum" sowie schwere körperliche Verletzungen von Polizisten. Eine konkrete Teilnahme des Klägers an diesen Aktionen ist dem Urteil aber nicht zu entnehmen.

Allein das Eintreten für islamistische Tendenzen bzw. für eine andere Staatsform führt nicht dazu, daß schon deswegen eine Gewährung von Asyl nicht möglich ist. Soweit es sich um das bloße Innehaben der politischen Überzeugung handelt, die in eine "normale" politische Betätigung einmündet, indiziert vielmehr die gleichwohl praktizierte staatliche Verfolgung die "politische" Verfolgungstendenz.

Das verhängte Strafmaß von 4 Jahren Gefängnis wird auch nicht dadurch "relativiert", daß es sich bei dem Kläger keineswegs nur um ein "einfaches" Mitglied der Ennahda handelt. Die Verurteilung des Klägers zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren liegt auch weit über der Unbeachtlichkeitsschwelle.