VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 03.04.1998 - 5 G 50235/98.A(3) - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13436
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Glaubwürdigkeit, Haft, Folter, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Offensichtlich unbegründet, Flughafenverfahren, Einreiseverweigerung, Zurückweisung, Abschiebungshindernis, Zurückweisungshindernis, Grundrechte, Nordafghanistan, Interne Fluchtalternative
Normen: AsylVfG § 18a; GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; AuslG § 60 Abs. 5 S. 1
Auszüge:

Der statthafte und auch im übrigen zulässige Antrag ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage begründet. Dem Antragsteller steht ein Anspruch zu, die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gestattet zu bekommen. Er wäre nämlich im Falle eines Vollzugs der Einreiseverweigerung durch Zurückweisung nach Afghanistan in seinem Herkunftsland einer extremen Gefährdungslage für Leib und Leben ausgesetzt, so daß jedenfalls derzeit für ihn ein verfassungsunmittelbares Zurückweisungshindernis aus Artikel 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 2 S. 1 GG besteht.

Auf dieses verfassungsunmittelbare Zurückweisungshindernis ist deswegen abzustellen, weil das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in seinem den Asylantrag des Antragstellers als offensichtlich unbegründet ablehnenden Bescheid vom 23.3.1998 zutreffend davon ausgegangen ist, daß dem Antragsteller bereits dem Grunde nach weder Schutz vor politischer Verfolgung gem. Artikel 16 a Abs. 1 GG bzw. § 51 Abs. 1 AuslG gewährt noch für ihn das Vorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses im Sinne des § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt werden kann, weil es in Afghanistan zur Zeit an staatlichen bzw. staatsähnlichen Strukturen mangelt.

Soweit das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG verneint hat, entfaltet diese Entscheidung für das vorliegende auf Gestattung der Einreise gerichtete einstweilige Rechtsschutzverfahren keine unmittelbare Wirkung. Die Entscheidung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge über § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG wird nämlich im Flughafenverfahren gem. § 18 a AsylVfG nur für den Fall einer eventuellen Abschiebung nach Einreise (zum Begriff der Einreise vgl. § 59 AuslG) eines Asylbewerbers in das Bundesgebiet getroffen. Die hierauf bezogenen Feststellungen des Bundesamtes entfalten somit keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung für die eine Einreiseverweigerung vollziehende Grenzbehörde.

Der Antragsteller kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, daß dem Vollzug der Einreiseverweigerung ein Abschiebungsverbot aus § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG entgegensteht. Die in § 53 AuslG normierten Abschiebungshindernisse betreffen nur die beabsichtigte Abschiebung von bereits ins Bundesgebiet eingereisten Personen, hingegen nicht den Vollzug einer Einreiseverweigerung gem. § 18 a Abs. 3 S. 1 AsylVfG bzw. einer Zurückweisung gem. § 60 AuslG (und auch einer Zurückschiebung gem. § 61 AuslG).

Dem Antragsteller ist jedoch deswegen die Einreise zu gestatten, weil dem Vollzug der Einreiseverweigerung und der Zurückweisung des Antragstellers nach Afghanistan ein aus Artikel 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 2 S. 1 GG folgendes verfassungsunmittelbares Zurückweisungsverbot entgegensteht. Der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat mit Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9/95 - entschieden, daß dann, "wenn dem einzelnen Ausländer keine Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2, 3, 4 oder 6 S. 1 AuslG zustehen, er aber gleichwohl ohne Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts nicht abgeschoben werden darf, (...) bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG im Einzelfall Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG zu gewähren" ist.

Allerdings beziehen sich diese Aussagen auf den Fall einer Abschiebung, hingegen nicht auf den einer Zurückweisung. Gleichwohl gebietet jedoch Artikel 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 2 S. 1 GG diese Grundsätze auch im Fall eines beabsichtigten Vollzugs der Einreiseverweigerung bzw. einer Zurückweisung anzuwenden.

An die Voraussetzungen für die Annahme eines solchen verfassungsunmittelbaren Zurückweisungshindernisses dürfen daher jedenfalls keine geringeren Anforderungen gestellt werden, als sie § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG für ein Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift fordert. Somit ist eine Zurückweisung in einen Zielstaat nur dann von Verfassungs wegen untersagt, wenn für den Ausländer dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Jedenfalls darf unter Berücksichtigung der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Ausländer durch eine beabsichtigte Zurückweisung nicht sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden. Auch eine aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen hervorgerufene extreme Gefahrenlage mit der damit einhergehenden Gefahr, daß praktisch jedem, der in diesen Staat zurückgewiesen wird, Gefahren für Leib und Leben in einem Maße droht, die eine Zurückweisung dorthin als unzumutbar erscheinen lassen, vermag danach gegebenenfalls im Einzelfall ein solches Zurückweisungsverbot auszulösen.

Das erkennende Gericht hat jedenfalls aufgrund der im Erörterungstermin erfolgten Beteiligtenvernehmung des Antragstellers die Gewißheit erlangt, daß der Antragsteller im Falle einer Zurückweisung nach Afghanistan einer extremen Gefährdung von Leib und Leben ausgesetzt wäre, die mit Artikel 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht zu vereinbaren ist.

Das Gericht verkennt nicht, daß die vom Bundesamt vorgenommene Bewertung des Vorbringens des Antragstellers im Rahmen seiner Einreisebefragungen und der anschließenden Anhörung durch das Bundesamt als nicht glaubhaft jedenfalls nicht von vornherein sachwidrig und unbegründet war.

Der Antragsteller vermochte es jedoch, im Rahmen seiner mehr als zwei Stunden währenden Beteiligtenvernehmung diese Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit in überzeugender Weise auszuräumen. Er hat insbesondere glaubhaft und überzeugend geschildert, daß er bereits im September 1996 nach der Einnahme Jalalabads durch die Taleban von diesen festgenommen war, weil er in dem - von ihm bestrittenen - Verdacht stand, mit dem von den Taleban gestürzten Mudjaheddinkommandanten Quadir zusammengearbeitet zu haben.

Es steht zur Gewißheit des erkennenden Gerichts zudem fest, daß der Antragsteller im Falle einer Rückkehr nach Jalalabad, mit erneuter menschenrechtswidriger und lebensbedrohender Festnahme rechnen müßte. Aufgrund des Umstandes, daß sich in den zurückliegenden Monaten Anhänger von Quadir immer wieder Gefechte mit den Taleban geliefert haben und im Spätsommer 1997 gar ein Putsch gegen die Taleban versucht worden war, liegt es auf der Hand, daß die Taleban in Anhängern oder vermeintlichen Anhängern von Quadir ihre Feinde sehen, die zu bekämpfen, zu inhaftieren und zu bestrafen sind, bis hin zur Tötung.

Einer - allerdings nur tehoretisch denkbaren - Zurückweisung des Antragstellers in den Norden Afghanistans stünde der Umstand entgegen, daß dort für den Antragsteller wegen der derzeit heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen gleichfalls eine lebensbedrohliche Lage bestünde. Aus diesem Grunde kann der Antragsteller auch nicht auf den Norden Afghanistans als inländische Fluchtalternative verwiesen werden.