VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 13.01.1998 - 14a K 7615/95.A - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13442
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Dev Sol, DHKP-C, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Straftäter, Strafnachrichtenaustausch, Innenminister-Briefwechsel, Strafverfolgung, Anti-Terrorismus-Gesetz
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Ob der Kläger zu 1. im Zuge des Strafverfahrens KLs 71/31 Js 131/93 StA Dortmund ein ihn im Rückkehrfall verfolgungsgefährdendes qualifiziertes Aufmerksamkeitsprofil auf sich gezogen hat, kann im Ergebnis offenbleiben.

Jedenfalls steht ihm im vorliegenden Einzelfall zu gerichtlichen Überzeugung ein beachtlicher Nachfluchtgrund deshalb zur Seite, weil er durch das Urteil der Staatsschutzkammer des Landgerichts Dortmund vom 19. Dezember 1996 (KLs 71 Js 129/96/14 (IX(B 3/96) rechtskräftig wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot (Devrimci Sol) verurteilt worden ist. Nach der eingeführten Auskunft des Bundesministeriums der Justiz vom 8. August 1997 an das VG Gießen (10 E 11561/92) findet auf der Grundlage des am 22. September 1969 für die Türkei in Kraft getretenen Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 (BGBl. 1964 II S. 1369, 1386; 1976 II S. 1799) gem. Art. 22 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei ein regelmäßiger Strafnachrichtenaustausch statt. Jede Partei unterrichtet die andere Partei von allen, deren Staatsangehörige betreffenden strafrechtlichen (rechtskräftigen) Verurteilungen und nachfolgenden Maßnahmen, die in das Strafregister eingetragen worden sind. Inhalt der Strafnachricht sind neben den persönlichen Daten des Betroffenen das Datum der Verurteilung und der (letzten) Straftat, die Bezeichnung des erkennenden Gerichts sowie das Aktenzeichen des Verfahrens, die zur Verurteilung gelangte Straftat nebst den entsprechenden Vorschriften des Strafgesetzbuches und sonstiger strafrechtlicher Nebengesetze, Art und Höhe der verhängten Strafe und eventuelle Nebenfolgen oder Nebenstrafen. Gemäß Art. 4 des Zusatzprotokolls zum Europäischen Übereinkommen vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 17. März 1978 (BGBl. 1990 II S. 124, 125; 1991 II S. 909) übermittelt jede Vertragspartei darüber hinaus der anderen Vertragspartei auf deren Ersuchen im Einzelfall eine Abschrift der in Betracht kommenden Urteile und Maßnahmen sowie alle weiteren diesbezüglichen Auskünfte, um ihr die Prüfung zu ermöglichen, ob dadurch innerstaatliche Maßnahmen erforderlich werden. Desweiteren erhalten die türkischen Justizbehörden auf entsprechende Ersuchen Auszüge (Mehrfertigung) aus den Akten deutscher Strafverfolgungsbehörden sowohl aus laufenden Ermittelungsverfahren als auch aus abgeschlossenen Strafverfahren.

Demgemäß muß die erkennende Kammer davon ausgehen, daß das gegen den Kläger zu 1. am 12. Dezember 1996 ergangene rechtskräftige Urteil der Staatsschutzkammer des Landgerichts Dortmund mit den vorbezeichneten näheren Angaben zwischenzeitlich in das Bundeszentralregister eingetragen und der Türkei im Rahmen des Strafnachrichtenaustausches so übermittelt worden ist, wie es die zitierten Rechtsgrundlagen vorsehen. Somit ist dieser bekannt, daß der Kläger zu 1. am 12. Dezember 1996 wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 15,00 DM verurteilt worden ist. Der Türkischen Republik ist bekannt, daß insbesondere die PKK und die Organisation Devrimci Sol, deren Anhänger der Kläger zu 1 in der Bundesrepublik geworden ist und für die er seinen Angaben zufolge nach wie vor aktiv ist (auch) in der Bundesrepublik Deutschland verboten sind und dringt auf die Durchsetzung der Betätigungsverbote.

Die DEV-SOL ist aus ihrer Sicht eine besonders staatsgefährliche Organisation. Nach der eingeführten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14. Feburar 1997 (514-516.00/23047) an das VG Frankfurt (Oder) ist die Bewegung DEV-SOL 1983 in der Türkei verboten worden. Deren militärischer Flügel, die SDB (bewaffnete Revolutionskommandos), wären kämpfende DEV-SOL-Zellen, deren Aufgabe es war, Attentate vorzubereiten und durchzuführen.

Wird der türkischen Republik vor dem brisant staatsgefährlichen Hintergrund insbesondere der PKK und der DEV-SOL die rechtskräftige Verurteilung eines türkischen Staatsangehörigen wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot in der Bundesrepublik Deutschland bekannt, so muß mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß dieser Person Ermittlungs- und Verfolgungsinteresse unter dem Gesichtspunkt exilpolitischer Aktivität für verbotene Vereine des beschriebenen staatsfeindlichen Profils gewidmet wird und muß auch in Betracht gezogen werden, daß über den Strafnachrichtenaustausch hinaus ein Ersuchen ergeht, eine Abschrift des Urteils sowie Auskünfte zu erhalten, um die Prüfung zu eröffnen, ob dadurch innerstaatliche Maßnahmen erforderlich werden und Auszüge aus den Akten des abgeschlossenen Strafverfahrens zu erhalten.

Schließlich sind Nachforschungen nach dem Kläger zu 1. durch Verwertung der mitgeteilten Personalien unter Einschaltung der hiesigen Konsulate mit dem Ergebnis seiner Entlarvung als DEV-SOL-Aktivist nicht unwahrscheinlich. Angesichts dessen muß zur richterlichen Überzeugung hier mit jedenfalls beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß die Türkische Republik die ihr im Wege des Strafnachrichtenaustausches mitgeteilte Verurteilung des Klägers zu 1 wegen Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot wegen dieses aus ihrer Sicht staatssicherheitsrelevanten Stichwortes der Straftat diese Aktivität nicht von vornherein als massenphänomenales Auslandsverhalten marginal niedrigen Profils bewertet, sondern ihr eine qualifizierte verfolgungsrelevante politische Komponente beimißt, um den Straftäter im Rückkehrfall spezial- und generalpräventiv zur Rechenschaft zu ziehen, mag auch das gegen den Kläger in Deutschland verhängte Strafmaß sich auf eine Geldstrafe beschränkt haben.

Dem Kläger zu 1. droht deshalb im unterstellten Rückkehrfall Verfolgung nach Maßgabe einschlägigen türkischen Staatsschutzstrafrechts (u.a. Art. 8 des Antiterrorgesetzes - ATG -) unter Anwendung menschenrechtswidriger intensiver Verhörmethoden zwecks Ausforschung der Hintergründe seines bestraften Zuwiderhandelns gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot in der Bundesrepublik Deutschland, seiner Beziehungen zur DEV-SOL, seiner Kontaktpersonen und der Organisationsstruktur der DHKP-C in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß der Kläger zu 1. mit dem in der Bundesrepublik für die DEV-SOL aktiv gewesenen Mahmut Sentürk in Verbindung gebracht worden ist, der nach Angaben seines Sohnes Mustafa Sentürk in dessen Asylverfahren 14a K 9097/97.A VG Gelsenkirchen nach Rückkehr in die Türkei staatlicher Befragung nach seinen Beziehungen zur DEV-SOL in der Bundesrepublik Deutschland unter Festnahme ausgesetzt worden und seit August 1996 inhaftiert sein soll.

Sein Verfolgungsrisiko kann auch nicht mit Blick auf den Briefwechsel zwischen dem deutschen und dem türkischen Innenminister vom 10. März 1995 relativiert werden.

Der Briefwechsel betrifft lediglich "die Abschiebung von türkischen Staatsangehörigen, die sich an Straftaten im Zusammenhang mit der PKK und anderen Terrororganisationen in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt haben". Er befaßt sich nicht mit abgeschobenen türkischen Asylbewerbern und enthält insbesondere keine Zusage der türkischen Seite, von Verfolgungsmaßnahmen gegen solche Personen abzusehen, an denen türkische Stellen aus Gründen der Staatssicherheit interessiert sind. Folgerichtig bestätigt das Auswärtige Amt im zuletzt zitierten Lagebericht seine bisherige Einschätzung, daß Mißhandlungen in den ersten Tagen nach Festnahme vor allem in Staatssicherheitssachen immer wieder vorkommen.

Der Kläger zu 1. genießt deshalb Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG.