VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 23.03.1998 - W 7 K 97.31264 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13446
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, DVPA, Familienangehörige, Haft, Einreise, Drittstaatenregelung, Glaubhaftmachung, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Bürgerkrieg, Taliban, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum
Normen: GG Art 16a
Auszüge:

Dem Kläger steht das beanspruchte Asylrecht zu, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen bei ihm vor.

Angesichts der nachstehend beschriebenen Lage in Afghanistan droht dem Kläger für den Fall der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

In Afghanistan stellt sich die Situation anhand der der Kammer zur Verfügung stehenden Auskünfte und Gutachten wie folgt dar:

Die Taliban haben in den von ihnen kontrollierten Provinzen die allgemeine Sicherheitslage erheblich verbessert und die Eigenständigkeit der lokalen Kommandanten reduziert, dafür aber auch einen rigorosen Islamismus in der Rechtsprechung und im gesellschaftlichen Leben eingeführt. Sie haben einen 25-köpfigen Rat gebildet, an dessen Spitze Mullah Mohammad Omar Achond steht. Sie haben die bisherigen Strukturen zerschlagen und streben danach, dem Vorbild des Propheten Mohammed folgend einen islamischen Gottesstaat aufzubauen. Die Mitglieder des Regierungsrates übernehmen die Funktionen von Ministern. Das "Militär", das nicht uniformiert ist und traditionelle Tracht, lange Bärte und Turban trägt, übernimmt die Funktion von Verwaltung und Sicherheitsbehörden. Der Militärrat ernennt Geistliche zu Richtern, die auch die Funktion des Anklägers wahrnehmen. Angewandt wird das im Koran niedergelegte Recht und die Überlieferung (Scharia). Dieses Recht ordnet das Zusammenleben der Einwohner. Durch das rasche Einschreiten der Gerichte ist im Bereich der Taliban die Kriminalität (auch durch Banden) stark gesunken. Auch die früher häufigen Straßensperren lokaler Kommandanten oder Räuber mit der Gefahr von Erpressung und Beraubung sind weitestgehend verschwunden. In dem von den Taliban beherrschten Bereich wird das islamische Recht (Scharia) absolut angewendet. Dies bedeutet zunächst, daß von Personen, die Afghanen und Muslims sind, das Tragen landesüblicher Tracht erwartet wird. Bei Männern schließt dies einen Vollbart ein. Auf Einhalt der Gebote wird streng geachtet. Dies führt immer wieder dazu, daß Passanten gezwungen werden, in die Moschee zu gehen. Frauen, die sich in der Öffentlichkeit zeigen, müssen völlig verhüllt sein. Bei Verstößen gegen diese Kleidungsvorschrift sind schon zahlreiche Frauen von den Taliban-Milizen mißhandelt worden. Die Ausübung eines Berufes ist Frauen nur da erlaubt, wo Publikumsverkehr mit anderen Frauen erforderlich ist (Ärztinnen und Krankenschwestern, aber auch Personenkontrolle am Flughafen). Die Mädchenschulen in Kabul wurden wie diejenigen in anderen von den Taliban kontrollierten Regionen geschlossen und Frauen wurde der Besuch von weiterbildenden Schulen untersagt. Die örtlichen Abteilungen der Taliban sind in jedem Dorf, jeder Gemeinde präsent. Da die "Armee" mit der Erfassung der Einwohner ihres Gebietes die Anwohner genau registriert und auch die gesamten Finanzen regelt, hält sie praktisch alle Fäden des öffentlichen Lebens in der Hand. Die Taliban haben also - weniger zum Schutz als zur Kontrolle der Bevölkerung - ein einfaches, aber ausgeklügeltes System errichtet (Danesch, Gutachten vom 5. Juli 1996 an das VG Aachen; AA, Lagebericht vom 26.7.1996). Da sie durch ihre Organisationsstrukturen die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb ihres Machtbereiches, etwa durch polizeiähnliche Einrichtungen zum Schutze der Gebietsbewohner gegen Übergriffe Dritter, Institutionen zur Schlichtung von Streitigkeiten und Vorkehrungen mit dem Ziel, das beherrschte Gebiet und seine Bewohner nach außen zu verteidigen, gewährleisten, üben sie in den von ihnen kontrollierten Gebieten staatsähnliche Gewalt aus.

Die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes in den beiden Entscheidungen vom 4. November 1997 - BVerwG 9 C 34.96 und 9 C 11.97 -, die nur die Verhältnisse in Afghanistan bis Oktober 1996 berücksichtigen konnten, ist durch die zwischenzeitliche Entwicklung im Lande überholt und kann deshalb diesem Urteil nicht mehr zugrundegelegt werden.

Der Kläger und seine Ehefrau haben beim Bundesamt schlüssig dargelegt, was sie zur Ausreise veranlaßte. Das Bundesamt hat im Verlauf der persönlichen Anhörung zudem selbst festgestellt, daß der Kläger aufgrund seiner ganz ungewöhnlichen Kenntnisse über die personelle Zusammensetzung des Zentralkomitees der ehemaligen DVPA als "hochrangiges und einflußreiches" Mitglied dieser Partei anzusehen ist, was auch mit diesen Worten in der Niederschrift über die persönliche Anhörung festgehalten wurde.

Das Gericht geht beim Kläger davon aus, daß seine frühere hochrangige Position den Taliban, die staatsähnliche Gewalt ausüben, entweder bereits bekannt ist oder daß sie ohne Schwierigkeiten von ihnen ermittelt werden kann. Vor allem da die Taliban sämtliche Verwaltungseinrichtungen der Hauptstadt in ihre Gewalt gebracht haben, hält es das Gericht für beachtlich wahrscheinlich, daß ihnen Unterlagen in die Hand gefallen sind, aus denen sich die Identität des Klägers ergibt. Vor den Taliban war nämlich (so Dr. Danesch in seiner Auskunft vom 4.10.1995 an das VG Köln) das gesamte Archivmaterial der kommunistischen Regierung den Mujaheddin bei der Machtübernahme in die Hände gefallen. Was die Wahrscheinlichkeit für asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen gegenüber früheren Kommunisten angeht, ist zwar nach der Position des betreffenden Asylsuchenden zu differenzieren, und nicht jeder, auch nicht jeder "durchschittlich" bedeutende Offizier oder Beamte, muß seitens der Taliban Verhaftung, Mißhandlung oder Tod befürchten. Das Gericht hat aber keinen Zweifel, daß die Taliban den Kläger aufgrund seiner früheren Stellung in Partei und Zentralkomitee als bedeutenden, vor allem aber auch als überzeugten und daher in seiner "Gottlosigkeit" wohl unbelehrbaren Repräsentanten des damaligen kommunistischen Regimes ansehen werden, und daß er - zumal er im Gegensatz zu den Taliban Tadschike ist - zu den hochgradig gefährdeten Funktionären gehört, die in keinem Fall mit der Nachsicht der Taliban rechnen können.

Dem Kläger bietet sich keine zumutbare Fluchtalternative in Afghanistan an. Das von Hazara bewohnte Gebiet in Zentralafghanistan ist derzeit wegen einer Blockade der Taliban, die in der Provinz Bamyan zur Gefahr einer Hungersnot geführt hat, praktisch nicht zu erreichen. Der von den Taliban nicht beherrschte Norden Afghanistans ist, nachdem die Route von Termez/Usbekistan nach Mazar-e Sharif/Afghanistan geschlossen ist, nur über das Talibangebiet zugänglich. Zudem gibt es in diesen von der "Nord-Allianz" nur unzulänglich beherrschten Provinzen weiterhin Übergriffe lokaler Potentaten, und die Wahrscheinlichkeit, daß tatsächliche oder vermeintliche Gegner der jeweiligen Machthaber mit Repressalien zu rechnen haben, ist dort mindestens so groß wie im Süden Afghanistans. Schließlich ist dort, wie in Afghanistan allgemein, die wirtschaftliche Lage so desolat, daß nur der überleben kann, der auf bestehende familiäre oder Stammesstrukturen zurückgreifen kann, die er regelmäßig nur im früheren Heimatgebiet findet.