VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 18.03.1998 - A 10 K 10573/96 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13452
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Flüchtlingsfrauen, Lehrer, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Taliban, Dostum, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Entführung, Zwangsislamisierung, Gruppenverfolgung, Abschiebungshindernis, Situation bei Rückkehr, menschenrechtswidrige Behandlung, Gefahrenbegriff, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Auslegung, Antragstellung als Asylgrund, Interne Fluchtalternative, Nordafghanistan, Bewaffnete Auseinandersetzungen
Normen: AuslG § 53 Abs. 4
Auszüge:

Ein Anspruch der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte besteht nicht.

In diesem Zusammenhang kann offenbleiben, ob und in welchem Umfang in Afghanistan derzeit von staatlicher oder "quasi-staatlicher" Gebietsgewalt im asylrechtlichen Sinn auszugehen ist; auch wenn dies - etwa für das Gebiet der sog. Taleban oder andere Teilbereiche - entgegen der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in ausreichendem Umfang zutreffen und eine Asylgewährung insofern nicht von vorneherein ausscheiden sollte, kommt eine Asylgewährung für die Klägerin nicht in Betracht, weil sie unverfolgt ausgereist ist und ihr auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan derzeit oder in absehbarer Zukunft mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine staatliche, quasi-staatliche oder dem Staat zurechenbare mittelbare politische Verfolgung nicht droht.

Was das Gebiet der Taleban angeht, so sind massive Restriktionen für Frauen nach allen vorliegenden Berichten an der Tagesordnung; Frauen werden unter Herrschaft der Taleban mit vielfältigen Mitteln massiv unterdrückt und sind praktisch aus dem öffentlichen Leben verbannt. Trotz dieses Befundes ergibt sich aber jedenfalls für die Person der Klägerin die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer im Sinn von Art. 16 a GG politischen Verfolgung (noch) nicht.

Auch die Tatsache, daß die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich seit dieser Zeit in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hat, begründet als solche noch keinen Asylanspruch. Wenn auch im Bereich der Taleban eine Rückkehr nach einem längeren Auslandsaufenthalt bereits wegen denkbarer westlicher Prägung "negativ ausschlagen" kann, ist damit die beachtliche Gefahr einer politischen Verfolgung wegen Asylantrags und Aufenthalts im Ausland als sog. selbstgeschaffener Nachfluchtgrund noch nicht dargetan.

Der Klägerin steht allerdings ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG zu. Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG liegen deswegen vor, weil die Klägerin bei einer (unterstellten) Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hätte.

Nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK setzt diese Vorschrift voraus, daß dem Betreffenden im Zielland der Abschiebung landesweit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung "durch den Staat oder eine staatsähnliche Organisation droht".

Nach der jüngsten (die vorstehenden Grundsätze erneut bestätigenden) asylrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts war bzw. ist zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt in Afghanistan weder ein Staat noch eine staatsähnliche Organisation vorhanden, so daß bei einer Übertragung dieser Grundsätze auf § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK die Annahme der Voraussetzungen dieser Vorschriften ausscheidet.

Es kann offenbleiben, ob in Afghanistan derzeit eine gefestigte und dauerhafte quasi-staatliche Organisation in diesem Sinne besteht. Denn es erscheint der Kammer jedenfalls nicht angebracht, die zu Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten Grundsätze auf § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK zu übertragen.

Die Kammer vermag insoweit zumindest der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK nicht zu folgen. Sie orientiert sich bei der von ihr selbst eigenverantwortlich vorzunehmenden Auslegung (BVerwG, Urt. v. 4.11.1997, aaO) im Ausgangspunkt vielmehr an der insofern abweichenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil v. 17.12.1996, A../Österreich, InfAuslG 1997, 279), wonach die Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung nicht von der Staatsgewalt des Aufnahmelandes (oder einer dort etablierten staatsähnlichen Organisation) ausgehen muß; jedenfalls unter den derzeit (§ 77 AsylVfG) gegebenen Verhältnissen in Afghanistan ist nach ihrer Auffassung ein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK denkbar. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der EMRK ist zum einen größeres Gewicht beizumessen, als ihr das Bundesverwaltungsgericht in den genannten Entscheidungen einräumt. Auslegung und Anwendung der EMRK sind von den vertragschließenden Staaten in Art. 45 EMRK ausdrücklich der Zuständigkeit des EGMR überantwortet worden. Bei Beteiligung eines vertragschließenden Teils an einem vom EGMR entschiedenen Verfahren sieht Art. 53 EMRK sogar eine Bindungswirkung in der Form der Verpflichtung vor, sich nach der Entscheidung des Gerichtshofs zu richten. Nach herrschender Meinung erstreckt sich diese Bindungswirkung auch auf nach Verkündung des Urteils eintretende Parallelfälle.

Der EGMR hat als Ausgangspunkt seiner Auslegung von Art. 3 EMRK bereits geklärt, daß in der Vorschrift einer der grundlegenden Werte demokratischer Gesellschaften verankert ist und daß der dort gewährte Schutz umfassender ist als jener in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Die weitreichende und elementare Bedeutung von Art. 3 EMRK hat ihn zu der weiteren Auslegung veranlaßt, daß die Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Gefahr nicht von der Staatsgewalt des Aufnahmelandes ausgehen muß, sondern sich auch aus den Umständen eines Bürgerkrieges ergeben kann, in dem verfeindete Clans gegeneinander kämpfen und daß unter Umständen sogar die von Privatpersonen ausgehenden Gefahren ausreichen oder Gefahren aufgrund von Umständen ausreichen, die weder unmittelbar noch mittelbar in den Verantwortungsbereich der Behörden des Empfangsstaates fallen. Es kann dahinstehen, ob dieser Auslegung in vollem Umfang - insbesondere in Hinblick auf die zuletzt genannten Entscheidungen zu "echten" privaten Gefahren - zu folgen ist; jedenfalls sind nach Auffassung der Kammer an Art. 3 EMRK nicht dieselben strengen Maßstäbe im Hinblick auf die (militärisch abgestützte) "Staatlichkeit" der befürchteten Behandlung anzulegen, wie sie das Bundesverwaltungsgericht zu Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelt hat.

Soweit das Bundesverwaltungsgericht zugunsten seiner (engen) Auslegung des Art. 3 EMRK auf den Wortlaut der Vorschrift abstellt, vermag dies die Kammer nicht zu überzeugen.

Das Argument des Bundesverwaltungsgerichts, die weite Auslegung der EMRK durch den EGMR schränke die ausländerpolitische Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten zur Bewältigung des Problems weltweiter Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen nahezu vollständig ein, mag für Rechtsverletzungen durch beliebige private Dritte - Drogenkartelle oder andere verbrecherische Banden oder einzelne Kriminelle einschließlich solcher Personen, die Blutrache üben sollen - durchaus seine Berechtigung haben. Dies gilt aber nicht, wenn es um Handeln nichtstaatlicher gefestigter Kräfte und organisierter Machthaber geht, denen von staatlicher Seite - ob diese nun existiert oder nicht - nicht Einhalt geboten wird.

Für die Prognose, ob eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung oder Bestrafung im Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, hat es vielmehr zu genügen, wenn tatsächlich ein überlegener Machtapparat vorhanden ist, dem der Ausländer ausgesetzt ist, und wenn die Dauerhaftigkeit dieses Machtapparats nach den tatsächlichen Verhältnissen eine vor Art. 3 EMRK verantwortliche Prognoseentscheidung erlaubt. Diese Voraussetzungen liegen in Afghanistan derzeit vor:

Die dortigen Verhältnisse sind dadurch gekennzeichnet, daß jedenfalls im Bereich der sog. Taleban eine - gleichviel ob "quasi-staatliche" oder nicht - Gebietsmacht gegeben ist, die zu eigener unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung oder zu entsprechender Schutzgewährung bei von anderer Seite drohender gleichartiger Behandlung ohne weiteres in der Lage ist und deren alsbaldige Beseitigung nicht bevorsteht.

Bei der Situation in Afghanistan handelt es sich weder um einen derzeit landesweit tobenden Bürgerkrieg verfeindeter Clans ohne jegliche staatsähnliche Strukturen noch um von reinen Privatpersonen ausgehende Gefahren, sondern - was die Taleban angeht - um eine nunmehr seit Jahren bestehende Machtstruktur mit Durchsetzungsfähigkeit und Effektivität, die sich jedenfalls in ihrem - ausgedehnten - Herrschaftsgebiet mit Anspruch auf das gesamte Staatsgebiet an die Stelle der spätestens seit dem Sturz des kommunistischen Regimes im April 1992 nicht mehr bestehenden Staats- oder Reststaatsgewalt gesetzt hat.

Es besteht auch die für § 53 Abs. 4 AuslG erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit, daß die Klägerin bei einer Rückkehr in das 2/3 von Afghanistan ausmachende Herrschaftsgebiet der Taleban im Sinn von Art. 3 EMRK "unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden" wird.

Es ist für die Kammer keine Frage, daß die in Afghanistan Frauen beim geringsten Verstoß gegen die als zwingend islamisch verstandenen Kleidungs- und Verhaltensvorschriften drohenden Mißhandlungen und Körperstrafen eine unmenschliche und erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK sind. Aber auch die noch unterhalb der Schwelle von Körperverletzungen liegende, im Fall der Klägerin mit Sicherheit zu erwartende soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung als solche ist "erniedrigende Behandlung" im Sinne von Art. 3 EMRK - unabhängig davon, ob in asylrechtlicher Sicht ausreichende Intensität vorliegen würde. Politische Verfolgung ist ein Anwendungsfall unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung; daneben hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch die (in Afghanistan für Frauen zunehmend zu beobachtende) Versagung medizinischer Behandlung und auch den Hausarrest als erniedrigend eingestuft.

Die Klägerin hat auch keine Möglichkeit, der "landesweit" im gesamten Taleban-Bereich bestehenden Gefährdung durch Rückkehr in einen anderen Landesteil Afghanistans zu entgehen.