VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.10.1998 - A 16 S 1881/97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13458
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, Russland (A), Studium, DVPA, Mitglieder, Haft, Flüchtlingsfrauen, Intellektuelle, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Misshandlungen, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Taliban, Nordallianz, Abschiebungshindernis
Normen: AuslG § 53 Abs. 4
Auszüge:

Die Kläger waren weder im Zeitraum ihrer Ausreise von staatlicher oder quasistaatlicher Verfolgung betroffen noch müssen sie gegenwärtig mit einer als staatlich oder staatsähnlich einzustufenden Verfolgung rechnen. Damit scheidet ihre Anerkennung als Asylberechtigte wie die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 1 AuslG schon aus Rechtsgründen aus. Darauf, ob die in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig wirkenden Kläger im übrigen eine asylrechtlich erhebliche Verfolgung erlitten haben bzw. im Falle einer Rückkehr zu erwarten hätten, kommt es mithin nicht mehr an. Da die Kläger jedenfalls keine "politische" Vorverfolgung erlitten haben, können ihnen auch die Beweiserleichterungen bei der sog. Wiederholungsverfolgung nicht zugute kommen. Der Senat ist damit einer Entscheidung darüber enthoben, ob das Tatbestandselement der Staatlichkeit/Quasistaatlichkeit eines Verfolgers überhaupt an diesen Beweiserleichterungen teilhat.

Bis zum Zeitraum der Ausreise der Kläger (1995) haben sich in Afghanistan - insbesondere im Raum Kabul, aber auch anderswo - keine staatlichen oder quasistaatlichen Strukturen herausgebildet.

Auch die Anforderungen quasistaatlicher Verfolgung erfüllte bis zum Jahre 1995 keine der maßgebenden Bürgerkriegsparteien. Von einer hinreichend effektiven, stabilen oder dauerhaften Gebietsgewalt konnte in keinem der Territorien gesprochen werden.

Auch gegenwärtig und auf absehbare Zeit läßt sich in Afghanistan kein den Anforderungen entsprechendes staatliches oder quasistaatliches Verfolgungssubjekt feststellen.

Eine zentral- oder auch nur reststaatlicihe Herrschaftsgewalt existiert in Afghanistan bis heute nicht und ist auch für die nähere Zukunft nicht zu erwarten.

In Afghanistan kann gegenwärtig auch nicht von der Existenz ausreichend verfestigter staatsähnlicher Organisationen ausgegangen werden.

Auf dem Territorium der Nordallianz fehlt es (wie bisher zum früheren "Nordreich") nach wie vor an den im erforderlichen Maß stabilen und verfestigten Herrschaftsstrukturen im Innern. Zwar haben sich die in den Ballungsräumen des "Dostum-Gebiets" (vor allem in Mazar-e-Sharif) vorhandenen staatsähnlichen Exekutiv-, Rechts-, Verwaltungs-, Sicherheits- und Daseinsvorsorgestrukturen jedenfalls bis Frühjahr 1997 erhalten. Im Raum Mazar-e-Sharif konnte daher bis zu diesem Zeitraum durchaus von einer alle Bereiche staatlicher Verantwortung abdeckenden staatsähnlichen inneren Ordnung ausgegangen werden, zumal Dostum die bestehenden Institutionen der früheren Regierung nicht zerschlug, sondern sie sich zu Nutze machte.

Im Einflußgebiet von Rabbani/Massud kann von vergleichbaren staatsähnlichen Strukturen allerdings nicht ausgegangen werden. Dort wurden zunächst die vorhandenen staatlichen Strukturen zerschlagen und angestammte hoheitliche Aufgaben teilweise durch Mudjaheddin-Kämpfer ausgeübt.

Durch die Rebellion General Malik s wurde vor allem auch der alte Machtapparat verändert und destabilisiert. Die Autorität Dostum s existierte nicht mehr, die schon bisher regional eigenständig herrschenden Kommandanten verschiedener Gruppen strebten nach noch größerer militärischer Macht und Eigenständigkeit. Nicht alle Kommandanten waren bereit, sich nunmehr Malik zu unterstellen. Auch die anderen in der Nordallianz vertretenen Parteien, insbesondere die "Jamiat-e-Islami" und die"Hezb-e-Wahdat" leisteten Malik Widerstand. Damit konnte von einem hinreichend effektiven und durchsetzungsfähigen Machtmonopol in der Nordallianz im allgemeinen und im "Dostum-Gebiet" im besonderen nach dem Aufstand von 1997 nicht die Rede sein.

Auch die Taliban erfüllen derzeit und auf absehbare Zeit die rechtlichen Voraussetzungen einer staatsähnlichen Organisation nicht.

Der Senat hält es schon für zweifelhaft, ob die Taliban im Innern in jeder Hinsicht die Mindestvoraussetzungen staatsähnlicher Herrschaftsmacht (staatsähnliche Organisationsformen, Gewährleistung einer "Friedensfunktion") erfüllen.

Die Taliban haben zumindest in den größeren Städten ihres Machtbereichs ein primitives aber effektives System zur Aufrechterhaltung von "Recht und Ordnung", wie sie sie verstehen, aufgebaut.

Dies legt zwar nahe, daß die Taliban sich in ihrem Einflußgebiet der beherrschten Bevölkerung gegenüber militärisch-physisch durchgesetzt haben (zumal regionale Herrscher eine geringere Rolle spielen) und daß sie jedenfalls bestimmte Segmente exekutiver und judikativer Staatsaufgaben wahrnehmen. Dabei beschränken sie sich aber ersichtlich auf solche Aufgabenbereiche, die sie nach ihren militärischen und religiösen Vorstellungen für notwendig halten. Das Spektrum staatlicher/staatsähnlicher Aufgaben geht über die bloße Aufrechterhaltung und Sicherung einer "religiösen Militärherrschaft" aber hinaus. Zu den notwendigen Staatsaufgaben gehören zumindest auch Anstrengungen zur Sicherung der Infrastruktur und der Daseinsvorsorge der Bevölkerung. Nur so ist eine staatliche "Friedensfunktion" denkbar. Davon, daß die Taliban in diesem umfassenden Sinne Verwaltungsaufgaben wahrnehmen wollen, kann nach den vorliegenden Erkenntnissen wohl nicht ausgegangen werden.

Abgesehen davon scheitert die staatsähnliche Qualität der Taliban aber jedenfalls daran, daß es auch ihnen nach wie vor an einer hinreichend stabilen, effektiven und dauerhaften Gebietsgewalt nach außen fehlt, welche sie als voraussichtlich dauerhaft und als Vorläufer neuer staatlicher Strukturen erscheinen läßt. Dieses Erfordernis politisch-militärischer Stabilität könnte, wie dargelegt, selbst durch ein umfassendes staatsähnliches System im Innern nicht ersetzt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.11.1997 - 9 C 34.96 -). Besondere Umstände, die ausnahmsweise eine andere Betrachtung nahelegen könnten, sind nicht ersichtlich, zumal der Taliban-"Regierung" bis heute (von wenigen Einzelfällen abgesehen) weltweit die Anerkennung als Repräsentantin des Staates Afghanistan versagt wird.

Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. dem - allein in Betracht kommenden - Art. 3 EMRK.

Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits durch Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 15.95 - (BVerwGE 99, 331, 333 ff.) entschieden, daß die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nur vorliegen, wenn der um Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung nachsuchende Ausländer im Zielland der Abschiebung (hier in Afghanistan) Gefahr läuft, Folter, erniedrigender Strafe oder erniedrigender Behandlung durch den Staat oder eine staatsähnliche Organisation unterworfen zu werden. Dem ist der Senat gefolgt (Urt. v. 25.9.1996 - A 16 S 2211/95 -).