VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.03.1998 - A 13 S 3665/95 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13464
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, DVPA, Mitglieder, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Taliban, Nordallianz, Abschiebungshindernis, Situation bei Rückkehr, Reisewege, Interne Fluchtalternative, Duldung, Tatsächliche Unmöglichkeit
Normen: AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Auf der Grundlage seines Vorbringens und der vorliegenden Erkenntnisquellen droht dem Kläger jedenfalls im Machtbereich der Taliban, auf den wegen der gegebenen Rückkehrmöglichkeiten allein abzustellen ist, zumindest die Gefahr eines längerfristigen Freiheitsentzuges und damit einhergehender Mißhandlungen, weil er als Beamter im Dienst des damaligen kommunistischen Regimes in maßgeblicher Stellung an der Verteilung von Grund und Boden im Rahmen der Bodenreform mitgewirkt und sich dadurch den besonderen Haß der orthodox-islamischen Kräfte, so auch der Taliban, zugezogen hat. Offenbleiben kann, ob und inwieweit der Kläger im Machtbereich der "Nord-Allianz", so etwa in den von Dostum kontrollierten Gebieten, vor Verfolgung sicher wäre; denn diese Gebiete haben mangels Erreichbarkeit außer Betracht zu bleiben. In rechtlicher Hinsicht ist zwar, wie bereits ausgeführt, davon auszugehen, daß § 53 AuslG nur vor einer landesweiten Gefahrenlage Schutz bietet. Bei der Prüfung der tatsächlichen Erreichbarkeit verfolgungsfreier Gebiete ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, a.a.O.) nicht nur die Situation der Abschiebung in den Blick zu nehmen. Sofern eine freiwillige Rückkehr in Betracht kommt und eine Gefährdung dadurch abgewendet werden kann, steht dies der Annahme eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG entgegen. Kommt eine freiwillige Rückkehr oder eine Abschiebung allerdings nur auf ganz bestimmten Reisewegen in Betracht, welche bei Ankunft im Zielland die Erreichbarkeit relativ sicherer Landesteile unzumutbar erscheinen lassen, kann ausnahmsweise bereits ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG bestehen, weil dann die festgestellte Zufluchtsmöglichkeit nur theoretisch besteht (BVerwG, Urteil v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, a.a.O.).

Während der Machtbereich der Taliban sowohl auf dem Luftweg (Verbindungen von Dubai nach Kabul sowie von Peshawar nach Kabul, Kandahar und Jalalabad; vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 30.9.1997, Mostafa Danesch, Gutachten für den Senat v. 10.3.1998) als auch auf dem Landweg (jedenfalls von Quetta nach Kandahar und von Peshawar nach Jalalabad, vgl. AA, Lagebericht v. 30.9.1997, Mostafa Danesch, Gutachten für den Senat v. 10.3.1998) erreichbar ist, ist eine Einreise in den Machtbereich der "Nord-Allianz" heute und auf absehbare Zeit nicht möglich. Die Option einer Einreise zunächst ins Taliban-Gebiet und von dort aus in den Norden scheidet schon deshalb aus, weil die innerafghanischen Landverbindungen blockiert, jedenfalls wegen bürgerkriegsbedingter extremer Gefahren für Leib und Leben zumutbarerweise nicht benutzbar sind.

Auch eine Einreise auf dem Landweg über die an den Machtbereich der "Nord-Allianz" unmittelbar angrenzenden Staaten (Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan) scheidet aus. Auch eine Einreise über Turkmenistan in den Machtbereich der "Nord-Allianz" ist derzeit (praktisch) nicht möglich.

Zwar verweist amnesty international (Auskunft v. 9.12.1997 an den Hess. VGH) pauschal auf eine Landverbindung von Tadschikistan nach Afghanistan über Teluqan. Den detaillierten und damit beweiskräfteren Ausführungen des Sachverständigen Mostafa Danesch entnimmt der Senat jedoch, daß diese Route für zivile Reisende ebenfalls unpassierbar ist.

In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, daß eine inländische Fluchtalternative im Machtbereich der "Nord-Allianz" schon mangels Erreichbarkeit dieses Gebiets ausscheidet. Da dies auf der Annahme beruht, das als Fluchtalternative in Betracht zu ziehende Gebiet sei - auch - mangels (realistischer) Möglichkeiten der unmittelbaren Einreise in diesen Teil des Heimatstaates nicht erreichbar, bedarf es allerdings der Abgrenzung zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der rechtlichen Relevanz einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Einreise in den Zielstaat der freiwilligen Ausreise oder Abschiebung (Urteil v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, a.a.O.). In dieser - zu Somalia ergangenen - Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung vertreten, für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative genüge es, daß das betreffende Gebiet innerhalb des Verfolgerstaates selbst ohne unzumutbare Gefährdung tatsächlich erreichbar sei. Sei dagegen schon die Einreise in das Heimatland oder einen anderen Zielstaat der Abschiebung faktisch unmöglich, so begründe dies lediglich ein (regelmäßig nur vorübergehendes) Hindernis für die freiwillige Ausreise oder für die Vollstreckung der angedrohten Abschiebung im Sinne des § 55 Abs. 2 oder Abs. 4 S. 1 AuslG. Hierüber entscheide die zuständige Ausländerbehörde, nicht das Bundesamt. Zu Unrecht habe die Vorinstanz daher die tatsächliche Erreichbarkeit verfolgungsfreier Gebiete schon deswegen verneint, weil die Verkehrsverbindungen in den Heimatstaat infolge des Bürgerkriegs unterbrochen seien. Von der Vorinstanz sei - nach Zurückverweisung - daher zu prüfen, ob dem Ausländer die festgestellten Gefahren bei einer unterstellten Ankunft in seinem Heimatstaat dort auch landesweit drohten.

Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auf die hier vorliegende Fallgestaltung indessen nicht anwendbar. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß die Verkehrsverbindungen in den Heimatstaat nicht vollständig unterbrochen sind, die Landesteile, in denen Gefahren drohen (hier das Taliban-Gebiet), vielmehr auf den üblichen Reisewegen erreicht werden können. Ließe man die infolge geschlossener Grenzen gegebene faktische Unmöglichkeit einer Einreise in die (mutmaßlich) sicheren Landesteile (hier den Machtbereich der "Nord-Allianz") im Sinne einer "unterstellten" Ankunft in diesen außer Betracht, wäre Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG mit Bindungswirkung für die Ausländerbehörde (vgl. § 42 S. 1 AsylVfG) zu versagen. Dem Ausländer würde die Abschiebung in den "gefährlichen" Landesteil drohen, ohne daß er die Möglichkeit hätte, die - wegen Schließung oder Unpassierbarkeit der Grenzen - nur theoretisch existierende Fluchtalternative in Anspruch zu nehmen. Vollstreckungsschutz könnte auch nicht im Wege der Erteilung einer Duldung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gewährt werden; denn § 55 Abs. 2 AuslG setzt voraus, daß die Abschiebung in den Zielstaat landesweit unmöglich ist. Dies gilt für die tatsächliche Unmöglichkeit einer Abschiebung in gleicher Weise wie für die Unmöglichkeit einer Abschiebung aus rechtlichen Gründen (anderer Ansicht offenbar - zu Afghanistan - Hess. VGH, Urteil v. 26.1.1998 - 13 UE 2978/96.A -, UA S. 58). Dementsprechend kommt es im übrigen auch nicht in Betracht, die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG auf die Gefahrenregion zu beschränken (vgl. Hess. VGH, Beschluß v. 5.3.1997, NVwZ-Beil. 1997, 63 (LS)).

Mit seiner Rechtsauffassung, daß Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG auch dann für den gesamten Staat auszusprechen sind, wenn sichere Landesteile - auch - wegen gerade dort geschlossener Grenzen nicht erreicht werden können, weicht der Senat somit nicht von der angeführten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil v. 15.4.1997, a.a.O.) ab. Diese Rechtsprechung betrifft lediglich die Situation, daß die Verkehrsverbindungen in den Zielstaat insgesamt unterbrochen sind. Bei der hier gegebenen Fallgestaltung der nur regional begrenzten Unmöglichkeit der Einreise in den Zielstaat ist die Annahme eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG indessen nicht ausgeschlossen.