OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 04.03.1998 - OVG 2 BA 16/96 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13470
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Paschtunen, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Situation bei Rückkehr, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Auslegung, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Menschenrechtswidrige Behandlung, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Hilfsorganisationen, Soziale Bindungen
Normen: AuslG § 53 Abs. 4; GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat den Klägern Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK mit der Begründung zugesprochen, diese Bestimmungen müßten (auch) in einer allgemeinen Bürgerkriegssituation dann herangezogen werden, wenn durch die Abschiebung für die Betroffenen eine unmittelbare und konkrete Gefahr für die von Art. 3 EMRK geschützten Rechtsgüter entstehen würde. Übergriffe einer Bürgerkriegspartei auf unbeteiligte Dritte begründeten dann die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer auch abgelehnten Asylbewerbern konkret drohenden unmenschlichen Behandlung, wenn sie derart häufig seien, daß sie sozusagen zur Tagesordnung gehörten, und mit ihnen nach den vorliegenden Umständen ernsthaft gerechnet werden müsse.

Diese Rechtsprechung weicht von derjenigen des Bundesverwaltungsgerichts ab.

Ihr folgt der Senat. Würde der Schutzbereich des Art. 3 EMRK nicht auf Handlungen beschränkt, die dem Staat oder einer staatsähnlichen Organisation zuzurechnen sind, hätte dies in der Tat Konsequenzen von nicht mehr übersehbarem Ausmaß für die Vertragsstaaten der EMRK. Daß die Vertragstaaten das gewollt haben könnten, kann nicht angenommen werden.

Danach kann die Argumentation des Verwaltungsgerichts, mit der es den Klägern Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMNRK gewährt hat, keinen Bestand haben. Denn das Verwaltungsgericht hat (zugleich) festgestellt, daß der afghanische Staat nicht mehr bestehe und auch nicht von einer staatsähnlichen Ordnung in einzelnen Regionen des Landes ausgegangen werden könne.

Auch für die Gegenwart kann nicht gesagt werden, daß in Afghanistan ein Staat oder zumindest eine staatsähnliche Organisation besteht, von der den Klägern eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK droht.

So kann auch nicht gesagt werden, die Taleban hätten sich bereits so weitgehend durchgesetzt, daß die Fronten seit längerem stabil seien und der Kampf gegen die Taleban nur noch in Randbereichen und nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg um die Macht im ganzen Land geführt werde. Hinzu kommt, daß auch im Taleban-Gebiet - wenn auch möglicherweise in eingeschränkterem Maße als im übrigen Teil Afghanistans - örtliche Machthaber eine Rolle spielen.

Nicht übersehen werden darf ferner, daß vor allem wegen der überaus rigiden Interpretation islamischer Vorschriften und deren rücksichtsloser Durchsetzung insbesondere gegenüber Frauen der Rückhalt für die Taleban in der Bevölkerung erheblich abgenommen hat. Kann hiernach für den Machtbereich der Taleban nicht festgestellt werden, daß sich dort eine effektive und dauerhafte territoriale Gebietsgewalt, die die Annahme einer staatsähnlichen Organisation rechtfertigen könnte, etabliert hat, so gilt dies erst recht für den Machtbereich der Nord-Allianz. In ihr haben sich die Führer des Nordens lediglich zu einem militärischen Bündnis gegen die Taleban verbündet. Die Grundlagen der Allianz sind durch die Aufsplitterung in die unterschiedlichsten Machtbereiche der einzelnen Führer sowie durch die Bedrohung seitens der Taleban ernstlich erschüttert.

Wegen einer gegenwärtig in Afghanistan bestehenden extremen allgemeinen Gefahrenlage ist die Beklagte jedoch nach Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch unabhängig von einer Ermessensentscheidung der (an sich) zuständigen Landesbehörde nach § 53 Abs. 6 S. 2, § 54 AuslG verpflichtet festzustellen, daß für die Kläger in Afghanistan die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG vorliegen.

Dies ergibt sich allerdings nicht allein aus den kriegerischen Handlungen. Insoweit heißt es zwar im Lagebericht des AA vom 30.9.1997, die Front verlaufe etwa 30 km nördlich von Kabul unter andauernden heftigen Kämpfen. Auch wird dort davon berichtet, daß der Kabuler Flughafen wegen der Gefahr von Bombardierungen nicht sicher sei und außer von der afghanischen Luftlinie ARIANA von keiner anderen Linienfluggesellschaft angeflogen werde. Diese Gefährdungen rechtfertigen indes noch nicht die Annahme, die Kläger würden im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer von Kriegshandlungen werden.

Auch haben Afghanen, die nach einer Flucht ins Ausland zurückkehren, in Afghanistan nicht generell Repressionen zu befürchten. Es ist nicht davon auszugehen, daß Rückkehrern eine "dekadente" Gesinnung von vornherein unterstellt wird. Jedoch muß aufgrund der dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen davon ausgegangen werden, daß - zusätzlich zur bestehenden Kriegssituation - die materiellen Existenzbedingungen für Rückkehrer zum gegenwärtigen Zeitpunkt derart schlecht sind, daß ihnen bei gebührender Beachtung der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nach Auffassung des Senats z.Z. eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zugemutet werden kann.

Das AA bezeichnet die wirtschaftliche Lage als "katastrophal", die Existenzbedingungen als "extrem schlecht". Die Bevölkerung ist auf die Unterstützung der Hilfsorganisationen angewiesen. Die Einwohner von Kabul leben praktisch ausschließlich von Rationen des UN-Welternährungsprogramms. Die Unterstützung der Hilfsorganisationen ist zudem erheblich eingeschränkt, weil insbesondere die Taleban gegenüber den Mitgliedern dieser Organisationen und gegenüber den afghanischen Frauen, die bei den Hilfsorganisationen arbeiten, Repressionen ausüben.

Unter Berücksichtigung der (übrigen) dem Senat vorliegenden Auskünfte und der Sachkompetenz des Auswärtigen Amts ergibt sich daraus für den Senat, daß es z.Z. nicht verantwortbar ist, afghanische Staatsangehörige nach Kabul zurückzuschicken, dort vielmehr gegenwärtig jedem Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche konkrete Gefahren i.S. von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG drohen. Eine Rückkehr in andere Regionen Afghanistans als die frühere Heimat der Rückkehrer - wo familiäre oder Stammesstrukturen fehlen - hält das Auswärtige Amt gegenwärtig ebenfalls für nicht möglich. Im Falle der Kläger, die aus Kabul stammen, hat sich im übrigen auch kein Anhalt dafür ergeben, daß sie dort - oder in andere Regionen des Landes - in bestehende familiäre oder Stammesstrukturen zurückkehren könnten. Dem - insoweit glaubhaften - Vorbringen der Kläger im Verfahren ist zu entnehmen, daß die in Kabul vorhandenen familiären Strukturen, in die eine Rückkehr in Betracht gekommen wäre, sich nach dem Sturz des Najibullah-Regimes und der Flucht der Familie aufgelöst haben.

Soweit auch angesichts der erwähnten Stellungnahme des Auswärtigen Amts die Annahme einer extremen allgemeinen Gefahrenlage in Afghanistan unter Hinweis auf die Hilfsprogramme der UNO und anderer ausländischer Hilfsorganisationen verneint wird, vermag sich der Senat dem für die gegenwärtige Situation nicht anzuschließen. Dafür waren nicht allein die dargestellten erheblichen Behinderungen der humanitären Tätigkeiten von Mitarbeitern der UN und anderer Organisationen maßgeblich, sondern vor allem der Umstand, daß auch nach Auffassung des UNHCR selbst "Schutz und ein Überleben" in Afghanistan bei der schlechten bis katastrophalen Versorgungslage und unter den gegebenen wirtschaftlichen Umständen sowie der Sicherheitslage nur aufgrund bestehender familiärer Bindungen oder Stammesbindungen möglich ist. Das deckt sich mit den Ausführungen des Auswärtigen Amts.