VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.03.1998 - A 16 S 60/97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13472
Leitsatz:
Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Gruppenverfolgung, Quasi-staatliche Verfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Amtswalterexzesse, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Verfolgungsdichte, Verfolgungsprogramm, Alter, Politische Entwicklung, Menschenrechtsverletzungen, Terrorismusbekämpfung, interne Fluchtalternative, Einreise, Befragung, LTTE, Verdacht der Mitgliedschaft, Existenzminimum, Berufung
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Ausgehend von den tatsächlichen Verhältnissen bis zu den Parlamentswahlen 1994 und dem eigenen Bekunden der Klägerin kann nicht festgestellt werden, daß sie zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Sri Lanka einer individuellen Verfolgung unterlag.

Es liegen für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Mai 1992 keine Anhaltspunkte für eine - landesweite oder regionale - mittelbare staatliche Verfolgung der Bevölkerungsgruppe der Tamilen bzw. einer nach weiteren asylerheblichen Merkmalen konkretisierten Untergruppe vor.

Es liegen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine landesweite unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung der zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin insbesondere nach Alter, Herkunft und Familienstand vorrangig von den Fahndungsmaßnahmen betroffenen Tamilen vor. Zu dieser Gruppe dürften nach den oben dargelegten Erkenntnismitteln junge ledige Tamilen - wohl beiderlei Geschlechts - aus den Konfliktgebieten im Norden und Osten im Rekrutierungsalter der LTTE (ab etwa 11 bis 40 Jahre) - und damit auch die zum Zeitpunkt ihrer Ausreise 15 Jahre alte und aus dem Norden Sri Lankas stammende Klägerin - zählen.

Es kann auch nicht festgestellt werden, daß die Bevölkerungsgruppe der Tamilen bzw. eine Untergruppe, der die Klägerin angehört, zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Mai 1992 einer regionalen unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung im Herkunftsgebiet der Klägerin unterlag. Dabei ist davon auszugehen, daß die Klägerin aus dem Norden Sri Lankas von der der Halbinsel Jaffna vorgelagerten Insel Delft stammt.

Ausgehend von den tatsächlichen Verhältnissen nach den Parlamentswahlen 1994 droht der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Sri Lanka wegen ihrer tamilischen Volkszugehörigkeit weder eine mittelbare noch eine unmittelbare gruppengerichtete staatliche Verfolgung.

Durch die Aktionen der Streitkräfte im Rahmen der verschiedenen militärischen Offensiven nach dem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs im April 1995 im Norden des Landes wurde zwar die in den Kampfgebieten lebende - nach der Vertreibung aller Nicht-Tamilen durch die LTTE ausschließlich tamilische - Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen. Es gab zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung. Durch Luftangriffe und Artilleriebeschuß entstand hoher Sachschaden. Soziale, kulturelle und religiöse Einrichtungen wurden zerstört oder beschädigt. Die Militäroffensiven und auch Zwang von Seiten der LTTE lösten ferner erhebliche Fluchtbewegungen unter der Bevölkerung aus. Es kann jedoch nicht festgestellt werden, daß die Aktionen der Streitkräfte über die mit einer Bürgerkriegssituation zwangsläufig einhergehenden Beeinträchtigungen der Zivilbevölkerung hinaus objektiv auf eine physische Vernichtung oder weitergehende schwerwiegende Beeinträchtigungen der tamilischen Bevölkerung gerichtet waren.

Auch das weitere Vorgehen der Sicherheitskräfte in den zurückeroberten Gebieten im Norden Sri Lankas ergibt derzeit zwar insgesamt eine kritische Menschenrechtslage, läßt den Schluß auf eine Gruppenverfolgung der Tamilen insgesamt bzw. einer nach weiteren asylerheblichen Maßnahmen konkretisierten Untergruppe aber nicht zu.

Das Wiederaufflammen der Kämpfe im Norden hatte auch Auswirkungen auf die Lage der Tamilen im Süden und Westen Sri Lankas.

Bezüglich der im Rahmen der Terrorismusbekämpfung im Süden und Westen, insbesondere im Großraum Colombo, regelmäßig stattfindenden Identitätsüberprüfungen ist davon auszugehen, daß für die Gruppe der Tamilen insgesamt und insbesondere für die Untergruppe der jungen Tamilen aus dem Norden und Osten zwar weiterhin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, bei einem Aufenthalt im Süden und Westen des Landes, insbesondere im Großraum Colombo, Identitätsfeststellungen - auch wiederholt - unterzogen zu werden und dabei eventuell auch kurzzeitig - bis zur endgültigen Klärung der Identität bzw. Ausräumung eines individualisierten LTTE-Verdachts - verhaftet zu werden. Diesen Maßnahmen fehlt aber - wie oben dargelegt - unter den besonderen in Sri Lanka herrschenden Verhältnissen unter dem Gesichtspunkt der Eingriffsintensität die erforderliche Asylrelevanz. Auch soweit es nach den Parlamentswahlen von 1994 in Einzelfällen nach Verhaftungen zu Tötungen, Verschwinden von Personen, Folterungen oder sonstigen schwerwiegenden Übergriffen durch Angehörige der srilankischen Sicherheitskräfte gekommen ist, sind diese als Exzeßtaten Einzelner zu werten, die dem srilankischen Staat nicht zugerechnet werden können. Die neue Regierung hat nach der Regierungsübernahme eine ganze Reihe von Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte gegen Übergriffe durch Angehörige der staatlichen Sicherheitsorgane ergriffen. Diese haben auch im Süden des Landes zu einem deutlichen Rückgang der Menschenrechtsverletzungen geführt. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, daß der srilankische Staat Übergriffe der Sicherheitskräfte duldet oder gar billigt, auch wenn diese im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden können.

Außerdem fehlt es bezüglich der in den Erkenntnismitteln festgestellten asylerheblichen Rechtsgutverletzungen auch in quantitativer Hinsicht an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Tamilen insgesamt bzw. einer nach Alter, Herkunft, Familienstand und/oder Geschlecht weiter eingegrenzten Untergruppe erforderlichen Verfolgungsdichte.

Hilfsweise wird darauf hingewiesen, daß eine Asylanerkennung der Klägerin auch daran scheitert, daß für zurückkehrende Tamilen unabhängig von Alter, Geschlecht, Familienstand, Herkunft und einer etwaigen Vorverfolgung selbst bei Annahme einer regionalen Gruppenverfolgung in den Konfliktgebieten im Norden und Osten Sri Lankas gegenwärtig und in absehbarer Zukunft regelmäßig im Süden und Westen des Landes eine zumutbare inländische Fluchtalternative besteht, wenn bei ihnen kein individualisierter LTTE-Verdacht vorliegt.

Die Klägerin ist als tamilische Volkszugehörige im Großraum Colombo vor politischer Verfolgung hinreichend sicher.

Tamilischen Volkszugehörigen drohen im Fall ihrer Rückkehr nach Sri Lanka im Großraum Colombo auch keine anderen unzumutbaren Nachteile. Tamilen können im Großraum Colombo grundsätzlich eine wirtschaftliche Existenzgrundlage finden, zumindest droht ihnen keine wirtschaftliche Verelendung.