OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.04.1998 - 9 A 6597/95.A - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13478
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Kurden, Jesiden, Minderheiten, religiös motivierte Verfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Gruppenverfolgung, Zurechenbarkeit, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Verfolgungsdichte, Religiöses Existenzminimum, Flüchtlingsfrauen, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Entführung, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Berufung
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Wegen ihrer Zugehörigkeit zur yezidischen Religionsgemeinschaft waren die Klägerinnen im Zeitpunkt ihrer Ausreise (Oktober 1992) einer dem syrischen Staat zurechenbaren mitteilbaren Gruppenverfolgung durch ihre moslemisch-kurdischen Volksgenossen bzw. moslemisch-arabischen Nachbarn nicht ausgesetzt noch drohte ihnen eine derartige Verfolgung.

Dies folgt allerdings nicht bereits aus dem Umstand, daß die feststellbaren Übergriffe der Moslems dem syrischen Staat nicht zuzurechnen sind. Insoweit schließt sich der erkennende Senat nach Auswertung aller ihm vorliegenden Erkenntnisse der im einzelnen begründeten Auffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts an, wonach der syrische Staat trotz bestehender umfassender Gebietsgewalt in Fällen moslemischer Übergriffe gegen die yezidische Minderheit grundsätzlich keinen Schutz gewährt. Dies gilt zum einen für die Vergangenheit, zum anderen ist auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse eine Änderung der Haltung des syrischen Staates auch für die absehbare Zukunft nicht zu erwarten.

Es steht jedoch bei der zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr gebotenen "qualifizierenden Betrachtungsweise" der Annahme einer im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerinnen bestehenden oder drohenden mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung der Yeziden jedenfalls entgegen, daß die hierfür erforderliche "Verfolgungsdichte" nach Überzeugung des erkennenden Senats auch unter Berücksichtigung der feststellbaren bzw. zu unterstellenden "Referenzfälle" nicht gegeben war.

Unabhängig davon sieht sich der erkennende Senat auch deshalb nicht in der Lage, die Aktualität der Bedrohung jedes Yeziden in Nordostsyrien anzunehmen, weil sich, was auch die Klägerinnen nicht in Frage gestellt haben, viele (junge) Yeziden in Syrien zum politischen Kurdentum bekennen und sich sowohl den kurdischen Untergrundparteien angeschlossen haben als auch Mitglieder der Syrischen Kommunistischen Partei oder der regierenden Arabischen Sozialistischen Baath-Partei sind.

Da in allen diesen Gruppierungen auch moslemische Araber bzw. Kurden tätig und insoweit Konflikte zwischen den yezidischen Mitgliedern und den anderen Parteigängern nicht zu verzeichnen sind, drängt sich die Annahme auf, daß offensichtlich nicht jeder Yezide aktuell befürchten muß, ein Opfer gewalttätiger Übergriffe moslemischer Kurden bzw. moslemischer Araber zu werden.

Die Klägerinnen können sich auch nicht auf eine im Zeitpunkt ihrer Ausreise aktuelle oder drohende, unmittelbar staatliche Gruppenverfolgung berufen, so daß sie auch insoweit nicht als vorverfolgt Ausgereiste zu qualifizieren sind.

Insbesondere wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit drohte den Klägerinnen bei ihrer Ausreise eine Gruppenverfolgung nicht. Übereinstimmend wurde in den bis dahin ausgewerteten Auskünften regelmäßig und nachvollziehbar die Auffassung vertreten, die Kurden in Syrien unterlägen in ihrer Eigenschaft als ethnische Minderheit keiner staatlichen Verfolgung; Soweit staatliche Maßnahme sich gegen Kurden richteten, zielten sie darauf ab, die Betroffenen wegen eines konkreten politischen und staatskritischen Verhaltens zu treffen.

Schließlich sind auch keine Anhaltpunkte dafür ersichtlich, daß den Klägerinnen im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine Entführung durch Moslems drohte. Zwar haben sie geltend gemacht, daß in ihrem Dorf ein Mädchen entführt worden sei, jedoch kann aus dieser punktuellen und auf eine andere Adressatin bezogenen Erscheinungsform moslemischer Übergriffe keine gerade den Klägerinnen gegenüber drohende Gefahr der Entführung abgeleitet werden.

Die Übergriffe der Moslems haben auch nach der Ausreise der Klägerinnen keine Dimension angenommen, die im Gegensatz zur Situation bei der Ausreise nunmehr eine hinreichende Verfolgungsdichte ergibt und damit die Annahme einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung als beachtlichen Nachfluchtgrund rechtfertigt. Dies gilt zunächst für das nordwestliche Siedlungsgebiet der Yeziden, in dem die die bisherige Lebenssituation der Yeziden kennzeichnenden Umstände unverändert fortbestehen.

Im Ergebnis nichts anderes gilt auch für das nordöstliche Siedlungsgebiet der Yeziden mit einem zugunsten der Klägerinnen zu unterstellenden Bevölkerungsstand von nunmehr noch 5000 Personen.

Allein die Asylantragstellung in Verbindung mit dem mehrjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, d.h. ohne Anreicherung durch eine zur Kenntnis der syrischen Sicherheitsorgane gelangte oppositionelle Tätigkeit - die im vorliegenden Fall nicht gegeben ist -, führten schon in der Vergangenheit nicht zu staatlichen Verfolgung, diese Situation besteht nach allgemeiner Einschätzung auch heute noch fort, so daß in Ermangelung gegenteiliger Erkenntnisse davon auszugehen ist, daß dies auch in Zukunft so bleiben wird.