VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 09.02.1998 - 10 G 30178/98.A(2) - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13510
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Asylantrag, offensichtlich unbegründet, Verfolgung, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, exilpolitische Betätigung, Hungerstreik, Einreise, Befragung, Abschiebungsschutz, Situation bei Rückkehr, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Die Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als offensichtlich unbegründet hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es ist nach der vom Gericht im Rahmen des Eilverfahrens vorzunehmenden summarischen Prüfung des Asylbegehrens des Antragstellers davon auszugehen, daß in der Person des Antragstellers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

Das Gericht ist davon überzeugt, daß kurdische Volkszugehörige ohne Gefahr asylrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen die Westtürkei sicher erreichen können. Ob bei Befragungen von zurückkehrenden Asylbewerbern an der Grenze oder am Flughafen Folter angewandt wird, wird von den dem Gericht vorliegenden Quellen in den meisten Fällen nur vermutet.

So ist auch nach der Rechtsprechung der Mehrzahl der Obergerichte davon auszugehen, daß - sofern keine Besonderheiten vorliegen - zurückkehrenden kurdischen Asylbewerbern nicht die Gefahr droht, an der Grenze oder am Flughafen staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.

Zu den vorstehend dargestellten Grundsätzen ergeben sich in der Person des Antragstellers jedoch Besonderheiten, die ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei für die dortigen Sicherheitskräfte von besonderem Interesse erscheinen lassen. Die beachtliche Gefahr politisch motivierter Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG resultiert für den Kläger zur Überzeugung des Gerichts aus seiner Teilnahme am Hungerstreik in der Petri-Kirche in Dortmund. Über den Hungerstreik wurde in mehreren Fernsehberichten ausführlich berichtet. Insbesondere im Hinblick auf den kurdischen Sender MED-TV ist davon auszugehen, daß dessen Sendungen vom türkischen Geheimdienst und den Sicherheitskräften zur Kenntnis genommen und ausgewertet werden. Zudem wurde, wie der Antragsteller zutreffend ausführt, in einer Vielzahl deutscher Tageszeitungen und auch in der türkischen Presse ausführlich über den Verlauf und den Hintergrund des Hungerstreiks berichtet. Hierbei ist insbesondere von Relevanz, daß der Antragsteller am 24.2.1997 in der Tageszeitung "Hürriyit" und in der Zeitung "Demokrasi" vom 13.2.1997 in Zusammenhang mit der PKK gebracht und in letzterer Zeitung auch namentlich genannt wird. Es ist daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß die türkischen Sicherheitskräfte von der Tatsache dieses Hungerstreiks und von den hungerstreikenden Teilnehmern und deren Identität Kenntnis erlang haben. Dies ist insbesondere deshalb anzunehmen, da dieser Hungerstreik, wie Kaya in einem Gutachten an Rechtsanwalt Brühl vom 25.6.1997 plausibel ausführt, - durch das erregte Aufsehen die vitalen Interessen des türkischen Staates berührt; dies wird zur Überzeugung des Gerichts noch dadurch verstärkt, daß der türkische Staat sich in jüngster Zeit massiv darum bemüht hat, der EU beizutreten. Aufgrund dieser vitalen Interessen des türkischen Staates, sein Ansehen im Ausland aufrecht zu erhalten, ist weiter nachvollziehbar von Kaya dargelegt, daß gerade dieser Hungerstreik Gegenstand intensiver Beobachtung durch die türkische Auslandsaufklärung gewesen ist und diese die gesammelten Erkenntnisse ins Heimatland weitergegeben hat.

Wie Kaya in oben genannten Gutachten für das Gericht nachvollziehbar darlegt, reicht der Umstand der Teilnahme an gerade diesem Hungerstreik und die Tatsache, daß die Teilnehmer Kurden sind, den staatlichen Sicherheitskräften aus, diese Personen als PKKler zu betrachten, sie festzuhalten und zu verhören. Dies würde auch dem Staatsanwalt genügen, die Dauer der Polizeihaft zu verlängern. Im Falle der Abschiebung würden die Personen mit Sicherheit festgenommen, verhört und gefoltert werden. Man würde sie zu dem Geständnis zwingen, daß sie Angehörige der PKK seien und an deren Aktivitäten teilgenommen haben. Der Inhalt der Zeitungsberichte und die Ausstrahlung über die Fernsehsender würden dazu führen, daß die Verhöre länger dauern und die Verhörten dabei schwer gefoltert werden. Zwar ist - soweit ersichtlich - in der obergerichtlichen Rechtsprechung bisher lediglich erklärt, daß exponierte Teilnehmer an exilpolitischen Veranstaltungen bei einer Rückkehr in die Türkei mit Maßnahmen im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG zu rechnen haben. Nach Überzeugung des Gerichts ist die Rechtsprechung zu exponierten exilpolitischen Aktivitäten aber auch auf derartige Sachverhalte übertragbar, in denen der Ausländer selbst nicht exponiert tätig gewesen ist, es sich insgesamt bei der zu bewertenden Veranstaltung aber um eine exponierte exilpolitische Aktivität gehandelt hat und über die in Presse und Fernsehen über den üblichen Rahmen hinaus berichtet worden ist. Denn auch für den Fall, daß der einzelne Teilnehmer nicht in exponierter Weise tätig geworden ist, die Veranstaltung als solche aber als exponiert gegen den türkischen Staat gerichtet anzusehen ist, ist zur Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß jeder Teilnehmer an derart exponierten exilpolitischen Veranstaltungen vom türkischen Staat als ernst zu nehmender und mit asylerheblicher Intensität zu bekämpfender Gegner angesehen wird.