OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 05.03.1998 - A 4 S 288/97 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13560
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Usbeken, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, quasi-staatliche Verfolgung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Situation bei Rückkehr, DVPA, Mitglieder, Geheimdienst, KHAD, Flüchtlingsfrauen, Frauen, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Existenzminimum, allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Berufung
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Auf der Basis der beigezogenen Erkenntnismittel geht der Senat davon aus, daß seit der Ausreise der Klägerin bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats keine effektive zentrale Herrschaftsgewalt mehr bestand bzw. besteht, und daß mit deren Herstellung wegen des nach wie vor bestehenden Bürgerkriegs auch in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Auch geht der Senat davon aus, daß sich in Afghanistan keine quasi-staatliche Gewalt gebildet hat.

Insbesondere auch wegen der unübersichtlichen und unentschiedenen Bürgerkriegslage ist davon auszugehen, daß sich im Herrschaftsbereich der Taleban keine quasi-staatliche Gewalt gebildet hat. Aus einem Bürgerkrieg entstandene Machtgebilde können nur dann als staatsähnliche Organisationen betrachtet werden, wenn diese Machtgebilde voraussichtlich von Dauer sein werden und Vorläufer neuer oder erneuerter Strukturen sind. Damit ist jedoch nur dann zu rechnen, wenn die Bürgerkriegsparteien nicht mehr unter Einsatz militärischer Mittel mit der Absicht, den Gegner zu vernichten, und mit Aussicht auf Erfolg um die Macht im ganzen Bürgerkriegsgebiet kämpfen, die Fronten also über längere Zeit hinweg stabil sind und allenfalls noch in Randbereichen gekämpft wird, im übrigen aber eine dauerhafte nichtmilitärische Lösung zu erwarten ist. Diese Voraussetzungen sind im Bereich der Taleban nicht erfüllt.

Auch im von der Nordallianz beherrschten Bereich hat sich keine quasi-staatliche Gebietsgewalt gebildet. Zwar bestehen in diesem Bereich Rechtsordnungen und Verwaltungseinrichtungen, die als wichtige Indizien für die Annahme staatsähnlicher Organisationen anzusehen sind. Das Bestehen solcher Strukturen kann jedoch eine hier fehlende effektive und dauerhafte territoriale Gebietsgewalt nicht ersetzen.

Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG liegt im Falle der Klägerin ebenfalls nicht vor.

Bei eingehender Würdigung der einzelnen Auskünfte und Stellungnahmen und ihrer zusammenfassenden Bewertung gilt folgendes: Derzeit ergeben sich im allgemeinen keine hinreichenden Anzeichen dafür, daß ehemalige einfache Mitglieder der DVPA, des ehemaligen Geheimdienstes KHAD oder der Streitkräfte bei Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wären.

Für die Klägerin bestünde zumindest im Bereich der Nordallianz keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für Verfolgungsmaßnahmen bei einer Rückkehr nach Afghanistan. Dies gilt auch dann, wenn zusätzlich zu ihrer Mitgliedschaft in der DVPA ihre usbekische Volkszugehörigkeit berücksichtigt wird. Selbst Danesch, der Verfolgungsgefahren für DVPA-Mitglieder, die anderen Bevölkerungsgruppen als den Paschtunen angehören, annimmt, geht davon aus, daß diese Gefahren nur im Bereich der Taleban bestehen.

Soweit die Klägerin Befürchtungen äußert, wegen ihrer usbekischen Volkszugehörigkeit und als Frau von den Taleban verfolgt und diskriminiert zu werden, ist freilich darauf hinzuweisen, daß die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG grundsätzlich schon deswegen ausscheidet, weil keine landesweite Gefahrenlage festgestellt werden kann. Derartige Nachteile drohen der Klägerin jedenfalls nicht im Norden Afghanistans in den von der Nordallianz beherrschten Gebieten.

Es kann auch nicht festgestellt werden, daß eine Rückkehr dorthin unzumutbar ist, weil die sicheren Gebiete im Norden des Landes nicht erreicht werden könnten, ohne auf dem Weg dorthin einer extremen Leib- oder Lebensgefahr ausgesetzt zu sein. Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen ist nicht ersichtlich, daß der Norden Afghanistans nur über das Gebiet der Taleban und damit nur über eine für die Klägerin möglicherweise mit Gefahren verbundene Region erreichbar ist.

Die allgemeinen aufgrund des Bürgerkriegs und der damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Lage bestehenden Gefahren haben sich für die dort lebende Bevölkerung aufgrund der dem Senat vorliegenden und berücksichtigten Erkenntnismittel nicht in der Weise verdichtet, daß von einer landesweit bestehenden extremen Gefahrenlage ausgegangen werden kann. Anhaltspunkte dafür, daß die Klägerin bei einer Einreise in den Norden Afghanistans - auf welchem der dargestellten Wege auch immer - mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer von Bürgerkriegsauseinandersetzungen würde, sind nicht ersichtlich.