OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.11.1998 - 4 L 18/95 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13812
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Gruppenverfolgung, Notstandsgebiete, Verfolgungsdichte, Vertreibung, Dorfzerstörung, Razzien, Sicherheitskräfte, Misshandlungen, Dorfschützer, Gebietsgewalt, Interne Fluchtalternative, Westtürkei, Verfolgungssicherheit, Polizeigewahrsam, Folter, Kontrollen, Mittelbare Verfolgung, Existenzminimum, Arbeitslosigkeit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Befragung, Reisedokumente
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Berufung des Bundesbeauftragen für Asylangelegenheiten ist begründet, da das Verwaltungsgericht die Beklagte zu Unrecht verpflichtet hat, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

Der Kläger hat weder aus dem Gesichtspunkt der Gruppenverfolgung noch aus dem einer Individualverfolgung mit politischer Verfolgung zu rechnen.

Mit Blick auf eine möglicherweise vorliegende Gruppenverfolgung kommen nur diejenigen im Osten der Türkei gelegenen Provinzen in Betracht, die ausschließlich, überwiegend oder zum erheblichen Teil von Kurden besiedelt werden. Art und Ausmaß der in diesen vorbezeichneten Gebieten zu beobachtenden Verfolgungshandlungen der türkischen Sicherheitskräfte lassen jedoch nicht die Bewertung zu, Kurden müßten dort allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit bzw. - was im Ergebnis auf das gleiche hinausliefe - wegen einer ihnen von den staatlichen Kräften pauschal unterstellten Nähe zur militanten kurdischen Bewegung mit Verfolgung rechnen....

Aus den dem Senat zugänglichen Erkenntnisquellen läßt sich nicht folgern, daß alle Bewohner der kurdischen Dörfer dieser Region jederzeit damit rechnen müßten, ebenfalls in Verfolgungsmaßnahmen der beschriebenen Art einbezogen zu werden. Die kurdischen Dorfbewohner werden nicht pauschal, sondern anlaß- und situationsbezogen der Zusammenarbeit mit der Guerilla bezichtigt; kurdische Bewohner von Dörfern, die bislang nicht in Berührung mit den militärischen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der kurdischen Guerilla gekommen sind, brauchen mit Verfolgungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte nicht zu rechnen. Daß die Sicherheitskräfte des türkischen Staates die Angehörigen des kurdischen Volkes nicht generell und ausnahmslos mit Übergriffen überziehen und nicht wahllos gegen die kurdische Bevölkerung vorgehen, läßt sich auch daraus schließen, daß ein nicht unbeachtlicher Anteil dieser Sicherheitskräfte selbst aus Kurden besteht, nämlich eine große 5-stellige Zahl staatlich besoldeter "vorübergehender Dorfschützer". Diesen aus kurdischen Volkszugehörigen bestehenden Dorfschützereinheiten wird zum Teil große Operationsfreiheit gewährt. Diese nutzen sie vielfach dazu, ihre persönlichen Interessen und die ihrer jeweiligen Großfamilie oder ihres Clans gewaltsam durchzusetzen....

Auch darüber hinaus läßt sich nicht feststellen, daß Angehörige des kurdischen Volkes generell und grundsätzlich als in Opposition zum türkischen Staat stehend angesehen und deshalb ausgegrenzt werden. Vielmehr ist festzustellen, daß Kurden in der Türkei auf allen Ebenen des Staates und der Gesellschaft präsent sind....

Daß Funktionäre der HEP, der DEP und der HADEP politischer Verfolgung ausgesetzt sind, spricht nicht für die generelle Verfolgung der Angehörigen des kurdischen Volkes, sondern im Gegenteil dafür, daß der kurdische Staat mit Blick auf seine Verfolgungsmaßnahmen durchaus differenziert....

Es ist somit nicht die Volkszugehörigkeit, sondern die politische Überzeugung, an die die Verfolgungsmaßnahmen des türkischen Staates und seiner Sicherheitskräfte anknüpfen. Da jene Überzeugung, der die Verfolgung dient, von einem beachtlichen Teil der Kurden - auch in den Notstandsgebieten - nicht geteilt wird, dieser vielmehr den türkischen Staat bei der Verfolgung seiner Ziele unterstützt, ja selbst einen Teil des türkischen Staates bildet, ist für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Kurden auch in den Norstandsgebieten kein Raum....

Zudem wäre eine Anerkennung türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit deshalb ausgeschlossen, weil Kurden außerhalb der Notstandsprovinzen und der an sie angrenzenden weiteren sensiblen Gebiete nach dem Erkenntnisstand, der sich derzeit aus den Erkenntnisquellen ergibt, vor politischer Verfolgung hinreichend sicher sind und ihnen dort auch keine anderen existenziellen Nachteile drohen...

In den Landesteilen außerhalb ihrer traditionellen Siedlungsgebiete (Westtürkei) sind Kurden, wenn sie politisch nicht exponiert sind, vor politischer Verfolgung hinreichend sicher...

Auch wenn im Zusammenhang mit spektakulären Aktionen nicht selten bis zu mehrere 100 Personen verhaftet werden, so liegt die Annahme nahe, daß es sich jeweils um solche Personen handelt, über die aus der Vergangenheit bereits polizeiliche Erkenntnisse vorliegen oder auf die sich Hinweise aus der Bevölkerung beziehen, die im Zusammenhang mit dem auslösenden Ereignis eingehen.

Es ist jedoch auch nicht anzunehmen, daß auch diejenigen in der Westtürkei lebenden Kurden einem signifikanten Risiko ausgesetzt sind, im Zusammenhang mit einer routinemäßigen Personenkontrolle menschenrechtswidrig behandelt zu werden, die bislang weder hier noch in der ostanatolischen Heimat den türkischen Stellen im Zusammenhang mit Separatismus aufgefallen waren.

Es kann schon nicht davon ausgegangen werden, daß die Beamten bei einer derartigen Kontrolle die kurdische Volkszugehörigkeit des Betreffenden stets ohne weiteres feststellen können...

Eine hinreichende Verfolgungssicherheit der Kurden in der Westtürkei läßt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren staatlichen Verfolgungssicherheit verneinen. Die Gefahr für Kurden in der Westtürkei, Opfer von - durch die türkische Staatsgewalt geduldeten - Übergriffen der türkischen Bevölkerungsmehrheit zu werden, ist gering....

Das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative läßt sich auch nicht mit der Erwägung in Frage stellen, daß der von regionaler Verfolgung Bedrohte bei generalisierender Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten habe....

Es ist jedenfalls bei der hier gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise ausgeschlossen, daß sich aus Ostanatolien zugewanderte Kurden in der Westtürkei wirtschaftlich verschlechtern werden. Alle insoweit maßgeblichen Indikatoren sprechen im Gegenteil für eine Verbesserung durch Übersiedlung in den Westen: Das zehnfach höhere Pro-Kopf-Einkommen, der höhere Beschäftigungsstand, die wesentlich geringere Analphabetenrate und der höhere Grad der medizinischen Versorgung. Allein der Umstand, daß aufgrund eines Jahrzehnte langen Migrationsprozesses inzwischen schätzungsweise 7 bis 8 Millionen Menschen kurdischer Herkunft und damit mehr als die Hälfte der in der Türkei überhaupt lebenden Kurden in der Westtürkei ansässig sind, ohne daß insofern von einem kurdenspezifischen Elend gesprochen werden könnte oder gar Fälle von Hunger und ähnlichem bekannt geworden sind, spricht dafür, daß auch den jetzigen Zuwanderern auf Sicht gelingen wird, die nicht unerheblichen Übergangsschwierigkeiten zu überwinden und ein bescheidenes Auskommen zu finden, daß in aller Regel über demjenigen in der bisherigen Heimatregion liegt...

Im deutlichen Unterschied zu den bisherigen Ausführungen läßt sich jedoch feststellen, daß solche Personen aus Ostanatolien, die an ihrem Heimatorte bei den Sicherheitskräften im Verdacht stehen, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren, auch in der Westtürkei keine hinreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung haben. Dies betrifft diejenigen, die an ihrem Heimatort von menschenrechtswidriger Behandlung betroffen oder bedroht waren und bei denen Umstände darauf hinweisen, daß diese Behandlung wegen einer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung der PKK erfolgte. Solche Umstände sind in den Augen der Sicherheitskräfte zum Beispiel die Mitgliedschaft in einer prokurdischen Partei (HEP, DEP, HADEP), unter bestimmten weiteren Umständen die Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen oder die entsprechende Denunziation durch andere Dorfbewohner. Einem in dieser Weise Betroffenen steht eine inländische Fluchtalternative auch in der Westtürkei nicht zu Gebote. Es besteht auch dort die ernst zu nehmende Möglichkeit, daß der Betreffende bei einer routinemäßigen Personenkontrolle, die im Zuge der verschärften Sicherheitslage auch in der Westtürkei vermehrt stattfinden, festgenommen und längere Zeit festgehalten wird, nachdem Rückfragen bei einem von der zuständigen Polizeizentrale geführten Register oder bei den für den Heimatort zuständigen Stellen ergeben haben, daß es sich bei ihm um eine der Zusammenarbeit mit militanten staatsfeindlichen Gruppen verdächtigten Person handelt.

Es ist im Regelfall ausgeschlossen, daß abgelehnte türkische Asylbewerber - auch solche kurdischer Volkszugehörigkeit - bei ihrer Einreise in die Türkei asylerhebliche Maßnahmen zu erdulden haben.

Eindeutige und in ihrem Aussagegehalt repräsentative Belegfälle für eine Mißhandlung von Asylbewerbern an den türkischen Grenzstellen gibt es nicht. Amnesty international benennt namentlich lediglich vier Fälle von abgeschobenen Kurden, die nach ihrer Abschiebung gefoltert worden sein sollen (vgl. Stellungnahme vom 19.07.1996). Von diesen Fällen wird nur die Darstellung eines Falles von anderer Seite bestätigt.

Diese bekannt gewordenen Referenzfälle sind nicht geeignet, die Annahme einer generellen Verfolgungsgefahr für abgeschobene kurdische Asylbewerber in der Polizei zu belegen. Sie ist in Relation zu setzen zu der Gesamtzahl der in Betracht zu ziehenden Abschiebefälle; dies waren im Jahre 1994 2.029 und im Jahre 1995 1.368 ( vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 07.12.1995, Seite 11; Antwort der Bundesregierung vom 9.04.1996 auf die Kleine Anfrage der PDS, Bundestagsdrucksache 13/ 4303, Seite 3 ).

Das Verfolgungsrisiko, das bei der Abschiebung eines türkischen Asylbewerbers zu beachten ist, wird durch den Briefwechsel zwischen dem türkischen und dem deutschen Innenminister vom 10. März 1995 nicht beeinflußt. Diese Vereinbarung erstreckt sich nach Wortlaut und nach ihrer tatsächlichen Handhabung ausschließlich auf türkische Staatsangehörige, "die sich an Straftaten in Zusammenhang mit der PKK und anderen Terrororganisationen in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt haben" (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2.12.1996 an VG Augsburg; Auskunft vom 05.02.1997 an Bundesministerium des Inneren; Lagebericht vom 10.04.1997, Seite 15).