VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 30.10.1998 - A 10 K 10761/96 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/13896
Leitsatz:
Schlagwörter: Pakistan, Ahmadiyya, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Übergriffe, Misshandlungen, Morddrohungen, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Zurechenbarkeit, Religiös motivierte Verfolgung, Glaubwürdigkeit, Vorverfolgung, Interne Fluchtalternative
Normen: GG Art. 16a
Auszüge:

Es besteht ein Anspruch des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter. Das Gericht geht zwar davon aus, daß Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya nicht bereits (unabhängig von einer konkreten Verfolgungssituation) wegen der allgemeinen Konfliktsituation zwischen Sunniten und Ahmadis in Pakistan oder wegen der in Pakistan bestehenden, gegen die Ahmadis gerichteten Strafvorschriften in dem hier maßgebenden Zeitraum politisch verfolgt worden sind oder bei einer Rückkehr ohne entsprechende Vorverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten müssen (vgl. Urteil v. 29.05.1998, A 10 K 10069/95); einer ausfürlichen Darlegung der allgemeinen Situation bzw. einer Würdigung der Strafvorschriften und der Strafausübungspraxis in Pakistan bei nicht vorverfolgt ausgereisten Ahmadis bedarf es daher nicht.

Der Asylanspruch des Klägers, dessen Religionszugehörigkeit durch die über ihn eingeholte Bestätigung seiner Gemeinschaft und seine Angaben bei den Anhörungen belegt ist, ergibt sich aber bereits daraus, daß er vorverfolgt aus Pakistan ausgereist ist, und daß nach dem ihm insofern zugutekommenden weniger strengen Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine erneute gleichartige politische Verfolgung nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Der vom Kläger geschilderte Sachverhalt zu seinen Erlebnissen in Pakistan ist glaubhaft; das Gericht kann ihn seiner Entscheidung zugrundelegen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend und widerspruchsfrei dargelegt, daß er im März 1995 Opfer eines gegen ihn gerichteten schwerwiegenden tätlichen Angriffs orthodoxer Jugendlicher geworden ist. Dabei wurde der Kläger von insgesamt sieben sunnitischen Studenten derart zusammengeschlagen, daß er zuletzt bewußtlos am Boden lag. Wie der Kläger weiter glaubhaft erklärte, blieb es zwar bei diesem einen massiven tätlichen Übergriff gegen ihn; in der Zeit zwischen März und Mai 1995 kam es jedoch durch Schüler des Colleges zu zwei bedrohlichen Situationen jeweils an der Bushaltestelle vor dem College, d.h. an dem Ort, an dem er im März 1995 bereits Opfer eines tätlichen Angriffs geworden war. Aufgrund des vorangegangenen Geschehens nahm der Kläger die von mehreren Mitschülern ausgesprochene Drohung, er müsse mit dem Tode rechnen, wenn er seine Ahmadi-Religion nicht aufgebe, ernst und sah sich im Mai 1995 gezwungen, das College zu verlassen. Zur Ausreise entschloß sich der Kläger allerdings erst, als es im Dezember 1995 auch in seinem Heimatdorf Chak Nr. 209, wo er seit dem Verlassen des Colleges gelebt hatte, ebenfalls zu einer Bedrohung seitens orthodoxer Moslems gekommen war. Auch was diesen Vorfall vom Dezember 1995 angeht, konnte das Gericht aufgrund der auch insofern widerspruchsfreien und in sich stimmigen Angaben des Klägers die Überzeugung gewinnen, daß der Kläger aufgrund dieser zuletzt - unter Einsatz einer Pistole - ausgesprochenen Drohung ernsthaft und konkret mit weiteren gegen ihn gerichteten Übergriffen rechnen mußte.

Der danach glaubhafte Vortrag des Klägers ist asylrechtlich relevant. Daß der schwerwiegende tätliche Angriff orthodoxer Jugendlicher, der zu bleibenden Verletzungen beim Kläger führte, unter dem Gesichtspunkt der Intensität asylrechtlich relevant ist, bedarf keiner weiteren Darlegungen. Darüber hinaus war der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise auch einer ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden unmittelbaren - weiteren - Gefährdung ausgesetzt. Er befand sich aufgrund des gegen ihn gerichteten tätlichen Angriffs in einer bedrohlichen Situation, die aufgrund der in der Folgezeit wiederholt ausgesprochenen Drohungen weiter andauerte und sich noch zugespitzt hatte.

Auch daß es sich bei dem gegen die körperliche Unversehrtheit des Klägers gerichteten Angriff und den Drohungen um eine religiös motivierte Verfolgung handelt, daß der Angriff mit anderen Worten "erkennbar gerichtet" gegen die Religionszugehörigkeit des Klägers war, liegt für das Gericht auf der Hand.

Das rechtsverletzende Verhalten der orthodoxen Muslime ist dem pakistanischen Staat nach dem Grundsatz der sogenannten mittelbaren Verfolgung auch zuzurechnen.

Bezogen auf die Situation von Ahmadis in Pakistan ergibt sich für die Kammer, daß von grundsätzlich fehlender Schutzbereitschaft des pakistanischen Staates bei Übergriffen orthodoxer Muslime gegenüber Ahmadis ausgegangen werden muß.

Dem danach in seiner Heimatregion vorverfolgten Kläger stand in Pakistan auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Die Annahme einer inländischen Fluchtalternative setzt bei bereits erlittener (mittelbarer) Verfolgung nämlich voraus, daß der Betreffende in anderen Landesteilen vor politischer Verfolgung hinreichend sicher gewesen wäre und daß dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gedroht hätten, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestande hätte. Eine solche ausreichende Sicherheit besteht für einen vorverfolgten Ahmadi in ganz Pakistan nicht. Das Gericht ist der Auffassung, daß die pakistanischen Großstädte den bereits vorverfolgten Ahmadis unter Wahrung eines religiösen Existenzminimums und bei Respektierung der privaten Glaubensäußerung keinen ausreichenden Schutz boten bzw. bei einer Rückkehr bieten würden.