OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 06.01.1999 - 3 Bs 211/98 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/14600
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ivorer, Minderjährige, Aufenthaltserlaubnis, Ablehnung, Klage, Duldung, Abschiebungshindernis, Côte d'Ivoire, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung, Schutz von Ehe und Familie, Vormund, Mündel, Pflegeeltern, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Auslegung, Suspensiveffekt
Normen: AuslG § 50 Abs. 3; AuslG § 53 Abs. 6; AuslG § 55 Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 6; VwGO § 123; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung aus § 55 Abs. 2 AuslG wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nach Art. 6 Abs. 2 GG hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Es spricht wenig dafür, daß die Abschiebung durch Art. 6 Abs. 2 GG gehindert wird, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat. Zwar mag es sein, daß auch die Beziehung des Kindes zu seinem Vormund durch dieses Grundrecht geschützt wird. Die Beziehung eines Vormundes zu seinem Mündel ist generell nicht so intensiv, daß sie das Mündel, wenn es sich um einen Ausländer handelt, angesichts des Art. 6 GG vor einer Beendigung seines Aufenthalts im Geltungsbereich des Ausländergesetzes bewahren könnte.

Im Hinblick auf Art. 6 GG von größerer Bedeutung ist im vorliegenden Fall, daß die Vormünderin der Antragstellerin zugleich deren Pflegemutter ist. Daß diese Beziehung aber von solchem Gewicht ist, daß Art. 6 GG die Beendigung dieser Lebensgemeinschaft verbieten würde, ist nicht ersichtlich. Die Antragstellerin hat nicht vorgetragen, daß ihr Verhältnis zu ihrer Pflegemutter von besonderer Innigkeit geprägt wäre und daß eine Trennung von ihr sie deshalb ähnlich hart treffen würde wie die eines Kindes von seiner leiblichen Mutter. Dies wäre indessen Voraussetzung für einen sich unmittelbar aus Art. 6 GG ergebenden Abschiebungsschutz.

Daß eine Verstümmelung der weiblichen Genitalien einen erheblichen Eingriff in die körperliche Integrität bedeutet, unterliegt keinem Zweifel. Die Rechtsfrage, ob eine etwaige Beschneidung der Antragstellerin in ihrem Heimatland von den deutschen Gerichten und Behörden, etwa aus Achtung vor den Bräuchen fremder Kulturen, zu respektieren wäre, verneint das Gericht in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.

Fraglich ist, ob eine Beschneidung der Antragstellerin auch mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, a.a.O., S. 259) zu erwarten ist. Nach den Angaben von Unicef und ai sind etwa 60% der ivorischen Frauen und Mädchen betroffen. Die Zahl allein läßt aber noch keinen Schluß auf die Wahrscheinlichkeit zu, mit der gerade die Antragstellerin von Beschneidung bedroht ist. Der Prozentsatz deutet darauf hin, daß die Beschneidung von Mädchen und Frauen nicht landesweit, sondern vor allem in bestimmten Regionen oder bei bestimmten Ethnien, innerhalb bestimmter Konfessionen oder nur innerhalb bestimmter Schichten oder überhaupt nur ohne faktischen Zwang durch das Umfeld praktiziert wird. Danach hängt die Wahrscheinlichkeit auch davon ab, wer nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland die elterliche Sorge über die Antragstellerin bis zu ihrer Volljährigkeit ausüben wird und welche Einstellung diese Person oder Einrichtung zu dem Problem hat. Das voraussichtliche Schicksal der Antragstellerin im Falle ihrer Abschiebung muß deshalb - im Klageverfahren - geklärt werden.

Sollte eine erhebliche konkrete Gefahr der Beschneidung der Antragstellerin festgestellt werden, so wird sich weiterhin die Frage stellen, ob nicht § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG die Anwendung des Satzes 1 dieser Vorschrift sperrt, weil der Gefahr der Beschneidung nicht nur die Antragstellerin, sondern die Bevölkerungsgruppe der ivorischen Mädchen allgemein ausgesetzt ist. Eine Anordnung nach § 54 AuslG, daß die Abschiebung dieser Gruppe ausgesetzt wird, existiert nicht. Es dürfte sich deshalb die Frage stellen, ob die Antragsgegnerin bei verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ausnahmsweise auch ohne die Existenz einer solchen Anordnung von der Abschiebung absehen muß, weil die Antragstellerin einer Person gleichsteht, die trotz Bestehens einer extremen allgemeinen Gefahrenlage durch die Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE Bd. 99 S. 324, 328; Urt. v. 19.11.1996, a.a.O., S. 258 f.). Dabei spielt auch eine Rolle, in welcher Form und in welchem Ausmaß eine Beschneidung durchgeführt werden würde.

Das Verwaltungsgericht wird diesen Fragen in dem bereits anhängigen Klageverfahren nachgehen müssen. Die erschöpfende Aufklärung des Sachverhalts ist ebensowenig wie die abschließende Beantwortung der sich stellenden Rechtsfragen Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens. Bei dem gegenwärtigen Verfahrensstand kann die Abschiebung der Antragstellerin in ihren Heimatstaat nicht zugelassen werden. Dies wäre mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar. Diese Bestimmung verlangt vorläufigen Rechtsschutz jedenfalls dann, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.