VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 29.10.1998 - A 2 K 11542/94 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/14814
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Taliban, Quasi-staatliche Verfolgung, Situation bei Rückkehr, Reisewege, Abschiebungshindernis, Existenzminimum, Soziale Bindungen, Verfahrensrecht, Klagefrist, Zustellung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; VwZG § 9 Abs. 2
Auszüge:

Der Kläger kann weder Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG noch Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG erhalten, der gleichermaßen wie Art. 16 a Abs. 1 GG voraussetzt, daß die bei einer Rückkehr in den Heimatstaat oder den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts befürchteten Repressalien von einer tatsächlich bestehenden staatlichen oder quasi-staatlichen Gewalt ausgehen.

Zur Zeit der Ausreise des Klägers im Jahre 1983 wurde in Afghanistan ein Bürgerkrieg geführt, der auch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Gerichts noch im Gange war und ist, in dem praktisch jeder gegen jeden gekämpft hat und noch kämpft.

Dieser Bürgerkrieg führte zum Wegfall jeglicher zentralstaatlicher Gewalt in Afghanistan. Eine solche Gewalt, durch wen auch immer, hat sich seit der klägerischen Ausreise auch nicht erneut gebildet.

Darüber hinaus kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers bzw. im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung sich in Afghanistan eine quasi-staatliche Gewalt herausgebildet hat. Der nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan im Jahre 1989 ausgebrochene heftige Bürgerkrieg wurde und wird mit wechselhafter Heftigkeit fortgesetzt. Er führte letztlich zwar dazu, daß in Abwesenheit einer effektiven staatlichen Zentralgewalt lokale Autoritäten in den von ihnen kontrollierten Gebieten eine Art Autonomie erlangt haben. Es kann aber gleichwohl nicht davon ausgegangen werden, daß eine hinreichende Verfestigung der Gebietsgewalt einzelner Gruppen entstanden wäre. Vielmehr war und ist die Gebietsgewalt jedes einzelnen Potentaten prekär.

Was den Machtbereich der Taliban betrifft, haben sich dort zwar wohl effektive Herrschaftsstrukturen im Inneren herausgebildet.

Es kann davon ausgegangen werden, daß die Taliban zur Durchsetzung ihrer Rechtsordnung, zur Regelung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und zur Aufrechterhaltung von "Recht und Ordnung" ein primitives, aber effektives System aufgebaut haben. Angesichts des andauernden Bürgerkriegs fehlt es aber an der erforderlichen Stabilität des von ihnen geschaffenen Systems. Dieser Bürgerkrieg wird um die Macht in ganz Afghanistan geführt, es geht den Beteiligten nicht nur um die Abgrenzung oder Arrondierung ihrer jeweiligen Machtbereiche.

Bei dieser Sachlage fehlt es an der vom Bundesverwaltungsgericht für staatsähnliche Organisationen geforderten Stabilität der Ausübung von Gebietsgewalt.

Auch die jüngst vermeldeten Siege der Taliban im Norden Afghanistans vermögen zu keiner anderen Beurteilung der Frage des Bestehens einer staatlichen bzw. quasi-staatlichen Gewalt i.S. der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts führen, wenngleich davon auszugehen ist, daß die Taliban momentan etwa 90% des afghanischen Staatsgebietes kontrollieren.

Der Kläger hat allerdings einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans.

Auf der Grundlage seines Vorbringens und der vorliegenden Erkenntnisquellen droht dem Kläger jedenfalls im Machtbereich der Taliban, auf den wegen der gegebenen Rückkehrmöglichkeiten allein abzustellen ist, eine konkrete Gefahr für Leib und Leben. Insoweit kann offen bleiben, ob und inwieweit dem Kläger im Machtbereich der "Nord-Allianz" Gefahren der genannten Art für Leib oder Leben drohen würden; denn diese Gebiete haben mangels Erreichbarkeit außer Betracht zu bleiben. Auch die Option einer Einreise zunächst ins Talibangebiet (welches sowohl auf dem Luft- als auch auf dem Landweg erreicht werden könnte) und von dort aus in den Norden scheidet deshalb aus, weil die innerafghanischen Landverbindungen blockiert, jedenfalls wegen bürgerkriegsbedingter extremer Gefahren für Leib und Leben zumutbarer Weise nicht benutzbar sind.

Kommt es angesichts der Erreichbarkeit eines Gebietes allein auf die Beurteilung des Machtbereichs der Taliban an, so ist festzustellen, daß der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, bei einer Rückkehr in diesen Machtbereich aufgrund unzureichender Existenzmöglichkeiten konkreten Gefahren für Leib oder Leben ausgesetzt zu sein.

Insoweit ist zunächst festzuhalten, daß das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom Februar 1998 angesichts der fortdauernden Kriegssituation eine Rückkehr von Afghanen in ihr Heimatland nur dann für möglich erachtet, wenn sie in bereits bestehende familiäre oder sonstige Stammesstrukturen erfolgte, das heißt, Freunde oder Verwandte bei den ersten Schritten zum Wiederaufbau einer wirtschaftlichen Existenz helfen könnten. Daß solche Strukturen im Bezug auf den Kläger (noch) bestehen, ist nicht erkennbar. Insbesondere ist auch nicht erkennbar, daß der Kläger in der Lage wäre, bei der völlig darniederliegenden afghanischen Wirtschaft sein Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. Weiter erschwerend kommt hinzu, daß der Kläger nicht-paschtunischer Volkszugehörigkeit nicht-sunnitischer Glaubensrichtung ist. Nach dem Gutachten von Dr. Danesch vom 4.7.1997 ist hierbei zu berücksichtigen, daß die Taliban zu Ungunsten von Nichtpaschtunen stark nach der ethnischen Zugehörigkeit differenzieren. Da der Kläger der Volksgruppe der Tadschiken gehört, die in Gegnerschaft zu den Taliban stehen, hätte er neben den existenziellen Schwierigkeiten zusätzliche Erschwernisse, deren Art und Weise der Willkür der Talibanmilizen unterliegt, zu gewärtigen.

Angesichts der Tatsache, daß der Kläger offensichtlich nicht in bestehende Stammes- und Familienstrukturen zurückkehren könnte, eine selbständige Existenzsicherungsmöglichkeit für ihn nicht erkennbar ist und die Teilnahme an internationalen Hilfsmaßnahmen nicht sichergestellt ist, rechtfertigt dies den Schluß, daß er bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre, weshalb zu seinen Gunsten ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG festzustellen ist.