VGH Baden-Württemberg

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VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.10.1998 - 11 S 1853/98 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/14830
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Türken, Kurden, Asylberechtigte, Straftäter, PKK, Innere Sicherheit, Gewalttätigkeiten, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Generalprävention, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Ermessen, Autobahnblockade, Nötigung, Freiheitsstrafe, Strafaussetzung, Bewährung, Familienangehörige, Besonderer Ausweisungsschutz, Abschiebungshindernis, Duldungsgründe, Ausweisung
Normen: AuslG § 46 Nr. 1; AuslG § 46 Nr. 2; AuslG § 55; AuslG § 51 Abs. 3; AuslG § 48 Abs. 1 Nr. 5; AuslG § 48 Abs. 1
Auszüge:

Die - nach Zulassung durch den Senat statthafte - Berufung ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Denn die Ausweisungsverfügung, die sich in der Gestalt des Widerspruchsbescheids - und folglich nach den §§ 45 ff. AuslG vom 09.07.1990 (BGBl. I, 1354) i.d.F. des Gesetzes vom 28.10.1994 (BGBl. I, 3168) beurteilt, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten.

Nach § 45 Abs. 1 AuslG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Durch die strafgerichtliche Verurteilung hat der Kläger das diese Ausweisungsermächtigung konkretisierende Regelbeispiel nach § 46 Nr. 2 AuslG erfüllt.

Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen des § 46 Nr. 1 AuslG vor. Zwar hat der Kläger entgegen der Auffassung der Ausländerbehörde nicht im Sinne der zweiten Alternative dieser Vorschrift die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.

Allein die Nähe zu oder die Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung, die ihrerseits wegen Gefährdung der inneren Sicherheit verboten werden kann, erfüllt diesen Ausweisungstatbestand nicht; vielmehr muß vom Ausländer persönlich eine Gefahr für die innere Sicherheit ausgehen. Solches kann aufgrund der nachgewiesenen Tätigkeit des Klägers für die PKK nicht festgestellt werden; es bestehen nämlich keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Kläger habe sich dergestalt an terroristischen Aktionen der PKK beteiligt oder diese unmittelbar unterstützt. Der Kläger hat sich jedoch i.S.v. § 46 Nr. 1 3. Alternative AuslG "bei der Verfolgung politischer Ziele" an Gewalttätigkeiten beteiligt.

Demnach sind jedenfalls durch die Verurteilung wegen Nötigung (§ 240 StGB) die tatbestandlichen Voraussetzungen auch dieses Ausweisungsgrundes gegeben.

Die Ausweisungsermächtigung erfährt jedoch unter anderem für die in § 48 Abs. 1 Nr. 5 AuslG genannten Ausländer, zu denen der Kläger als anerkannter Asylberechtigter gehört, eine Einschränkung. Diese Ausländer können gemäß § 48 Abs. 1 a.E. AuslG a.F. nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Die Beurteilung der Ausweisungsgründe ist an den Ausweisungszwecken auszurichten; schwerwiegende Gründe liegen demnach dann vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat.

Sind diese gerichtlich voll überprüfbaren Voraussetzungen nicht erfüllt, kommt eine Ausweisung nicht in Betracht. So liegt es hier, denn entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts kann ein solchermaßen schwerwiegender Ausweisungsgrund weder in spezial- noch in generalpräventiver Hinsicht bejaht werden.

Eine Ausweisung zum Zwecke der Spezialprävention erfordert zum einen, daß dem Ausweisungsanlaß ein besonderes Gewicht zukommt, das sich aus den konkreten Umständen der jeweils in Frage stehenden Verhaltensweisen des Betroffenen - bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit - ergibt. Zum anderen sind gesteigerte Anforderungen an die Einschätzung der in Zukunft vom Ausländer ausgehenden Gefahren zu stellen. Es müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, daß in Zukunft eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht.

Nach diesen Maßstäben vermögen spezialpräventive Erwägungen die Ausweisung des Klägers nicht zu rechtfertigen. Dabei bedarf es hier keiner abschließenden Entscheidung, ob dem Ausweisungsanlaß besonderes Gewicht im Sinne von § 48 Abs. 1 AuslG zukommt.

Denn jedenfalls kann die bei § 48 Abs. 1 AuslG erforderliche gesteigerte Wiederholungsgefahr nicht festgestellt werden.

Denn das Landratsamt Zollernalbkreis als die für den Wohnsitz des Klägers zuständige Ausländerbehörde hat unter dem 20.02.1996 mitgeteilt, daß der Kläger nach der Autobahnblockade nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten sei; auch anderweitig ist für den gesamten, ca. eineinhalbjährigen Zeitraum zwischen der Entlassung des Klägers aus der Untersuchungshaft und dem Erlaß des Widerspruchsbescheids nichts Gegenteiliges bekannt geworden. Die in der Vergangenheit beobachteten Kontakte des Klägers zu einem örtlichen PKK-Funktionär konnten gleichfalls für spätere Zeiten nicht mehr bestätigt werden. Dies deckt sich mit den Angaben des Klägers, der bereits vor dem Verwaltungsgericht vorgetragen hat, daß er zumindest seit der Blockadeaktion seine politische Betätigung eingestellt habe. Vor diesem Hintergrund fehlt es nunmehr an der Triebfeder, die zuvor zum strafbaren Handeln geführt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.01.1989, BVerwGE 81, 155 160>). Die Auffassung, wonach die Gefahr bestehe, daß sich der Kläger jederzeit wieder für die Ziele der PKK aktivieren lasse, bleibt demgegenüber eine nicht durch bestimmte Anzeichen belegte Vermutung.

Auch der den hier einschlägigen Ausweisungstatbeständen ebenfalls zugrundeliegende generalpräventive Gesetzeszweck, auf den sich das Regierungspräsidium im Widerspruchsbescheid gleichermaßen beruft, rechtfertigt die Ausweisung bei Beachtung des nach § 48 Abs. 1 AuslG erhöhen Ausweisungsschutzes nicht. Generalpräventive Gründe sind unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur in Ausnahmefällen schwerwiegend; dies ist nur dann der Fall, wenn die Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über eine etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.01.1989, BVerwGE 81, 155 161>; vom 11.06.1996, BVerwGE 101, 247 254 f.>). Dabei sind bei der Entscheidung alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles in die Beurteilung miteinzubeziehen. Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen.

Bei der hiernach gebotenen Würdigung des Gesamtverhaltens des Klägers ist die geforderte Ausnahmesituation, die in seinem Fall eine generalpräventiv begründete Ausweisung unabdingbar erscheinen ließe, nicht gegeben. Zwar besteht ein überragendes Interesse daran, daß politische Anliegen in geordneten Bahnen und unter Beachtung der Rechtsordnung geltend gemacht werden und politische Kundgebungen nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen ausarten.

Bei der Verfolgung dieses Ziels durch eine generalpräventiv motivierte Ausweisung ist jedoch gleichwohl der individuelle Tatbeitrag des betroffenen Ausländers in Rechnung zu stellen. Dieser erweist sich gerade bei Würdigung der verhängten Strafe als nicht hinreichend gewichtig, um den dem Kläger zukommenden Ausweisungsschutz zu überwinden. Der Kläger hat sich weder während der Autobahnblockade als solcher als Organisator oder Wortführer hervorgetan, noch war sein festgestellter Tatbeitrag beim nachfolgenden Geschehen etwa durch besondere Brutalität gekennzeichnet.

Die Ausweisungsverfügung ist aber auch dann rechtswidrig, wenn in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen wird, daß ein schwerwiegender Ausweisungsgrund i.S.v.

§ 48 Abs. 1 AuslG vorliegt. Denn die Ausländerbehörde hat jedenfalls von dem ihr dann eingeräumten Ausweisungsermessen nicht fehlerfrei Gebrauch gemacht.

Bei der Ermessensentscheidung über die Ausweisung sind die in § 45 Abs. 2 AuslG aufgeführten Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wozu auch die in § 55 Abs. 2 AuslG genannten Duldungsgründe gehören. Nach § 55 Abs. 2 AuslG wird einem Ausländer eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach § 53 Abs. 6 oder § 54 AuslG ausgesetzt werden soll. Damit verknüpft § 45 Abs. 2 Nr. 3 AuslG die Ermessensentcheidung über die Ausweisung gleichsam vorgreifend mit den eine zeitweise Aussetzung der Abschiebung erfordernden Gründen, die sich aus § 55 Abs. 2 AuslG ergeben, und trägt so dem Gedanken Rechnung, daß die Abschiebung häufig das letzte Glied einer Kette von Maßnahmen zur Entfernung eines Ausländers aus dem Bundesgebiet ist, die mit der Ausweisung eingeleitet werden. Da in aller Regel, insbesondere aber bei Vorliegen schwerwiegender Ausweisungsgründe, nur der Heimatstaat des Ausländers zu dessen Aufnahme bereit ist, ist es gerechtfertigt, die einer Abschiebung in den Heimatstaat entgegenstehenden Gründe bereits in die die Ausweisung tragenden Ermessensgründe einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.12.1987, BVerwGE 78, 285 292 f.>; vom 05.05.1998, DVBl. 1998, 1023 1025>).

Als anerkanntem Asylberechtigten kommt dem Kläger gemäß § 51 Abs. 2 Nr. 1 AuslG - vorbehaltlich der Bestimmung des § 51 Abs. 3 AuslG - das Abschiebungshindernis des § 51 Abs. 1 AuslG zugute, wonach ein Ausländer nicht in den Staat abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion oder Statsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 3 AuslG in der hier anzuwendenden Fassung liegen nicht vor.

Darüber hinaus kann auch die erforderliche Wiederholungsgefahr nicht festgestellt werden; denn diese geht über das im Rahmen von § 48 Abs. 1 AuslG geforderte - und im vorliegenden Fall verneinte - Maß sogar noch hinaus und liegt in der Regel bereits dann nicht vor, wenn im Hinblick auf eine günstige Sozialprognose nach § 57 Abs. 1 StGB die Vollstreckung eines Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt worden ist (vgl. hierzu BVerwG, Beschluß vom 20.10 1994, Buchholz 402.240 § 51 AuslG 1990 Nr. 7).

Die Ausländerbehörde hat die Rechtslage insoweit nicht verkannt und ausdrücklich betont, daß eine Aufenthaltsbeendigung im Falle des Klägers nicht in Betracht komme. Gleichwohl rechtfertigt sie die Ausweisung maßgeblich mit spezialpräventiven Gründen, denn es ist nicht ersichtlich, daß die abschließend erwähnte generalpräventive Erwägung (vgl. hierzu BVerwG, Beschluß vom 18.08.1995, Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 7) die Ermessensentscheidung selbständig tragen soll. Dann aber fehlt es an Erwägungen, ob insoweit nicht mildere Mittel zu Gebote stehen, um das angestrebte Ziel in gleicher Weise zu erreichen.