Verletzung rechtlichen Gehörs durch Nichtberücksichtigung erheblichen Vorbringens im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bei Beurteilung der Zulässigkeit einer Beanstandungsklage - Pflichten des Bundesbeauftragten im Asylverfahren. (Amtlicher Leitsatz)
Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen der Gewährung rechtlichen Gehörs in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren auf Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen einen Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht hat erhebliches Vorbringen der Beschwerdeführer bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt. Die Beschwerdeführer haben mit Schriftsatz vom 16. September 1996 ausdrücklich darauf hingewiesen, nach den Akten des Bundesamtes sei davon auszugehen, dass der Bundesbeauftragte nicht erst durch die Zuleitung der Klageschrift Ende Dezember 1994, sondern bereits durch die am 14. Dezember 1994 verfügte formlose Zuleitung des Bescheides vom 12. Dezember 1994 Kenntnis von diesem erhalten habe mit der Folge, dass bei der Klageerhebung durch den Bundesbeauftragten am 29. Dezember 1995 bereits mehr als ein Jahr verstrichen gewesen sei. Das Verwaltungsgericht hat zwar die Zuleitung des Bescheides am 14. Dezember 1994 im Tatbestand des angegriffenen Urteils erwähnt, in den Entscheidungsgründen jedoch ausgeführt, der Bundesbeauftragte habe "frühestens" mit dem gerichtlichen Mitteilungsschreiben vom 30. Dezember 1994 Kenntnis von dem ergangenen Bescheid erhalten, so dass bei Erhebung der Klage durch den Bundesbeauftragten die für die Annahme einer Verwirkung zugrunde zu legende Frist von mindestens einem Jahr noch nicht abgelaufen gewesen sei. Diese Erwägung widerspricht bereits den Feststellungen im Tatbestand des Urteils und lässt darüber hinaus den ausdrücklichen Hinweis der Beschwerdeführer in ihrem Schriftsatz vom 16. September 1996 außer Acht, so dass der Schluss nahe liegt, dass das Gericht den Zeitpunkt der formlosen Zuleitung bei der Abfassung der Entscheidungsgründe aus den Augen verloren und daher nicht erwogen hat. Bestärkt wird diese Schlussforderung durch den besonderen Umstand, dass der besagte Schriftsatz zwar zusammen mit einem Anschreiben des Gerichts an das Bundesamt übersandt wurde und daher Bestandteil der vom Gericht beigezogenen Beiakten war, er sich jedoch nicht in den vom Bundesverfassungsgericht beigezogenen Gerichtsakten befindet, so dass anzunehmen ist, dass er auch bis zum Zeitpunkt der Urteilsfindung keinen Eingang in die Gerichtsakten gefunden hätte. Dies rechtfertigt den Schluss, dass das Verwaltungsgericht die von den Beschwerdeführern ausdrücklich vorgetragene formlose Zuleitung des Asylbescheids an den Bundesbeauftragten am 14. Dezember 1994 bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Klage nicht in Erwägung gezogen hat.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auch auf dem festgestellten Gehörsverstoß, denn es lässt sich nicht ausschließen, dass das Gericht bei Berücksichtigung der am 14. Dezember 1994 vermerkten formlosen Zuleitung des Bescheides zu einem für die Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage gelangt wäre, die Klage also möglicherweise als unzulässig abgewiesen hätte. Wie den Ausführungen des Verwaltungsgerichts selbst zu entnehmen ist, hätte es sich bei Annahme eines Zeitraums von über einem Jahr seit Kenntniserlangung vom Bescheid mit den im Urteil offen gelassenen Fragen beschäftigen müssen, ob der Bundesbeauftragte sein Klagerecht verwirken kann und ob die Voraussetzungen einer Verwirkung im Falle der Beschwerdeführer vorlagen. Hierbei handelt es sich um Fragen des einfachen Rechts, über die das Bundesverfassungsgericht nicht abschließend zu entscheiden hat, so dass ein anderes Ergebnis jedenfalls nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann (vgl. BVerfGE 7, 275 281 f.>).
Es ist auch nicht deutlich abzusehen, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben könnten mit der Folge, dass ihnen durch eine Versagung der Entscheidung zur Sache im Verfassungsbeschwerde-Verfahren kein besonders schwerer Nachteil entstünde (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG, vgl. dazu BVerfGE 90, 22 25 f.>). Legt man den Eingang des Bescheides beim Bundesbeauftragten in den Tagen nach dem 14. Dezember 1994 zugrunde, so hätte das Verwaltungsgericht nach eigener Auffassung die Möglichkeit einer Verwirkung des Klagerechts des Bundesbeauftragten näher prüfen müssen, weil der Bundesbeauftragte bei Erhebung seiner Klage am 29. Dezember 1995 schon länger als ein Jahr vom Klagegrund hätte Kenntnis haben müssen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der Einwand des Bundesbeauftragten, er habe jedenfalls von dem formlos zugeleiteten Bescheid keine Kenntnis genommen. Denn der Bundesbeauftragte ist verpflichtet, auch ablehnende Asylbescheide zur Kenntnis zu nehmen. Die Praxis des Bundesamtes, nur stattgebende Bescheide förmlich an den Bundesbeauftragten zuzustellen, und damit korrespondierend die Auffassung des Bundesbeauftragten, formlos zugeleitete Bescheide nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, verkennen die Aufgaben des Bundesbeauftragten. Diese Institution soll nach ihrem Sinn und Zweck als Korrektiv gegenüber den weisungsungebundenen Entscheidungen des Bundesamtes dienen, auf eine einheitliche Entscheidungspraxis der Gerichte hinwirken sowie Fragen grundsätzlicher Bedeutung einer ober- oder höchstrichterlichen Klärung zuführen (vgl. BTDrucks 12/2718, S. 55 f. BVerwGE 99, 38 43 f. >). Dies schließt ein Tätigwerden sowohl zu Lasten wie auch zu Gunsten von Asylbewerbern ein. Auch Entscheidungen, die eine Asylanerkennung ablehnen, können grundsätzliche Fragen aufwerfen, deren Klärung der Rechtssicherheit dient. Die zu beobachtnede einseitige Praxis des Bundesbeauftragten, nur zu Lasten der Asylbewerber gegen ganz oder teilweise stattgebende behördliche oder gerichtliche Entscheidungen vorzugehen (vgl. dazu kritisch Renner, AuslR, 7. Aufl. 1999, § 6 Rn. 2, so auch schon Rothkegel in : GK-AsylVfG a. F., Stand: März 1992, § 5 Rn. 2 f.) und dabei gelegentlich auch einzelfallbezogene Sachverhalts- und Glaubwürdigkeitsaspekte geltend zu machen, wird dem gesetzgeberischen Auftrag nicht gerecht. Allein der Hinweis auf eine beschränkte personelle Ausstattung vermag das einseitige Tätigwerden des Bundesbeauftragten nicht zu rechtfertigen. Das Verwaltungsgericht wird mithin zu prüfen haben, ob der Bundesbeauftragte sein Klagerecht verwirken konnte (eine Verwirkungsmöglichkeit bejahend z. B. Marx, AsylVfG , 4. Aufl. 1999, § 6 Rn. 7; verneinend Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 16. März 1996 - 3 L 1061/96 -) und ob die sonstigen Voraussetzungen einer Verwirkung im vorliegenden Fall erfüllt sind.
Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Beanstandungsklage des Bundesbeauftragten wird das Verwaltungsgericht zudem zu prüfen haben, ob der Bundesbeauftragte bereits vor seiner Klageerhebung im Dezember 1995 seine Beteiligung am Asylverfahren der Beschwerdeführer erklärt hat und - falls er zuvor nicht Beteiligter war - ob er noch zulässig Klage erheben und damit seine Beteiligung erklären konnte (vgl. dazu auch BVerwGE 99, 38 40f. >), nachdem die im Bescheid vom 12. Dezember 1994 getroffenen Feststellungen zu den §§ 51 Abs. 1 und 53 Abs. 4 AuslG gegenüber den Beteiligten, nämlich den Beschwerdeführern, bestandskräftig geworden waren (vgl. dazu Schenk in: Hailbronner, AuslR, Stand: September 2000, § 6 AsylVfG Rn. 11; Marx, AsylVfG, 4. Aufl. 1999, § 6 Rn. 11; siehe auch VG Berlin, Urteil vom 13. September 1988 - VG 20 A 280.85 -, InfAuslR 1988, S. 342 343>; BVerwGE 67, 64 65>).