BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 15.12.2000 - 2 BvR 347/00 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/15946
Leitsatz:

Verletzung von GG Art 2 S 2 iVm Art 20 Abs 3 durch Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft trotz Undurchführbarkeit der Abschiebung. (Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Türken, Asylbewerber, Abschiebungshaft, Straftäter, Drogendelikte, Jugendstrafe, Ausweisung, Sofortvollzug, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sicherungshaft, Strafhaft, Verhältnismäßigkeit, Rechtliches Gehör, Rechtsstaatlichkeit, Einstweilige Anordnung, Aussetzung der Abschiebungshaft, Meldeauflage
Normen: AuslG § 57 Abs. 2 S. 4; AuslG § 57 Abs. 2 Nr. 5; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 104 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3
Auszüge:

Gemäß § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Das Oberlandesgericht (OLG) hat diese auf den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückgehende Vorschrift nicht beachtet. § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG wird in der angegriffenen Entscheidung vom 21. Februar 2000 nicht erwähnt. Es ist auch der Sache nach nicht erkennbar, dass das OLG in die verfassungsrechtlich gebotene Prüfung eingetreten ist, ob und inwieweit der ihm bei seiner Beschlussfassung vorliegende Beschluss des Niedersächsischen Oberlandesgerichts vom 16. Februar 2000 als Umstand zu bewerten sein könnte, der dauerhaft oder doch auf längere, nicht absehbare Zeit der Durchführung der Abschiebung entgegensteht. Dass es sich hierbei um einen der Abschiebung entgegenstehenden Grund handelt, den der Beschwerdeführer im Sinne von § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG nicht zu vertreten hat, bedarf keiner weiteren Ausführungen. Der Anwendung von § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG steht nicht entgegen, dass es sich bei dem Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts um eine lediglich vorläufige Regelung handelt. Bei Regelungen dieser Art können die Haftgerichte zwar in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise annehmen, dass die Undurchführbarkeit der Abschiebung nicht feststeht, dies freilich nur, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Abschiebung, die auf Grund der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Verwaltungsgerichte ausgeschlossen worden ist, gerade in der Dreimonatsfrist des § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG wieder möglich werden könnte (vgl. Kammerbeschluss vom 28. November 1995 - 2 BvR 91/95 -, a.a.O.: Im dortigen Verfahren hatten die Haftgerichte derartige konkrete Anhaltspunkte angenommen, die das Bundesverfassungsgericht zu der Beurteilung bewogen haben, die entsprechende Begründung der Haftgerichte erscheine als "noch vertretbar").

Solche konkreten Anhaltspunkte hat das OLG im hier zu beurteilenden Fall nicht untersucht, sie sind auch nicht zu erkennen: Der Zeitpunkt der Entscheidung der Widerspruchsbehörde, den das Niedersächsische OLG als Endpunkt der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Anordnung der Abschiebung bestimmt hat, war nach der im vorliegenden Verfahren eingeholten Auskunft der Ausländerbehörde zum Stand des Widerspruchsverfahrens zur Zeit der Entscheidung des Oberlandesgerichts völlig ungewiss; das Widerspruchsverfahren war noch nicht einmal an die Widerspruchsbehörde abgegeben worden. Ferner hatte das Niedersächsische OLG die Erwartung geäussert, dass die Widerspruchsbehörde die vom Verwaltungsgericht (VG) Chemnitz im dortigen Asylstreitverfahren vom Auswärtigen Amt (AA) schon mit Beschluss vom 30. Juli 1999 erbetene Auskunft, ob seitens der türkischen Behörden gegen den Beschwerdeführer ermittelt wird, bei ihrer Entscheidung ebenso berücksichtigen werde wie die zukünftige Entscheidung des VG Chemnitz. Die Erteilung der erbetenen Auskunft durch das AA war aber im maßgeblichen Zeitpunkt angesichts der diesseits eingeholten Sachstandsmitteilung des VG Chemnitz gleichfalls ungewiss, folglich ebenso Zeitpunkt und Inhalt der verwaltungsgerichtlichen Asylentscheidungen. Auf der Basis dieser Sachlage, deren - verfassungsrechtlich gebotene - Ermittlung auch dem OLG ohne Weiteres möglich gewesen wäre, durfte das OLG von Verfassung wegen nicht davon ausgehen, die Undurchführbarkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers habe nicht festgestanden.