VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 27.05.1998 - A 9 K 313/98 - asyl.net:
https://www.asyl.net/rsdb/15972
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Kurden, Drittstaatenregelung, Einreise, Luftweg, Glaubwürdigkeit, Beweismittel, Mitwirkungspflichten, Flugunterlagen, Schlepper, Beweiswürdigung, Richterliche Überzeugungsgewissheit, Gruppenverfolgung, Nordirak, Gebietsgewalt, Interne Fluchtalternative, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund
Normen: GG Art. 16a; AsylVfG § 26a; AsylVfG § 15; AuslG 74; VwGO § 108 Abs. 1
Auszüge:

Der Asylanspruch ist nicht durch Art. 16 a Abs. 2 Satz 1GG i.V.m. § 26 a AsylVfG ausgeschlossen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger auf dem Luftweg eingereist ist. Dafür sprechen die Angaben des Klägers zu seiner Einreise.

Dem stehen aber auch nicht die Umstände seiner Einreise entgegen, obwohl sie in der Regel von den irakischen Staatsangehörigen vorgetragen werden, die mit dem Flugzeug über die Türkei in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Jedenfalls vermag das Gericht daraus nicht generell auf eine Schutzbehauptung zu schließen, da nicht ersichtlich ist, warum sich die jeweiligen Fluchthilfen durch Schlepper aus der Türkei unterscheiden sollten.

Aus diesem Grund steht der Überzeugungsbildung des Gerichts auch die Nichtvorlage der Flugunterlagen seitens des Klägers nicht entgegen. Denn der Kläger ist im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Mitwirkungspflichten im Sinne des § 15 AsylVfG nachgekommen und hat nicht etwa durch die absichtliche Vernichtung von Unterlagen versucht, seinen Reiseweg zu verschleiern. Auch soweit § 15 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. Abs. 3 AsylVfG die Verpflichtung des Asylbewerbers zur Vorlage von in seinem Besitz befindlichen Unterlagen begründet, so gilt diese gesteigerte Mitwirkungspflicht nur für die Fälle in denen dem Asylbewerber die Vorlage möglich ist, nämlich die Unterlagen " in seinem Besitz befindlich " sind. Denn die den Asylbewerber treffende Mitwirkungspflicht wird andererseits durch die Amtsermittlungspflicht des Bundesamtes

( § 24 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 VwGO) beschränkt. Dementsprechend kann bei der Beurteilung der Einreise nicht allein auf die Nichtvorlage der Flugunterlagen abgestellt werden (OVG LSA; Beschluss vom 20.08.1996, A 4 S 81/96), wenn diese durch die Darlegungen des Asylbewerbers sowie aufgrund der Kenntnis um die tatsächlichen Organisationsstrukturen der Schlepperorganisationen hinreichend begründet erscheint und andere Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen.

Nach Kenntnis des Gerichts verfügen die Schlepperorganisationen darüber hinaus über eine gut funktionierende Organisationsstruktur welche es ihnen erlaubt, die Asylbewerber mit gefälschten Pässen von Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auszustatten. Hieraus ergeben sich erleichterte Einreisekontrollen, zumal Inhaber solcher Reisepässe für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland kein Visum benötigen. Dementsprechend und um keinen Rückgriff auf die Organisationsstruktur zu ermöglichen, erscheint die nachfolgende Abnahme der Pässe und Flugunterlagen durch den ihn begleitenden Schlepper, zu dem der Asylsuchende bis nach der Einreise in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, als überaus glaubhaft und ist nicht lediglich als Schutzbehauptung anzusehen. Dies gilt auch unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung einer möglichen Rückbeförderung des Asylbewerbers durch die Fluggesellschaft (§ 74 Abs. 2 Satz 2 AuslG). Nicht zuletzt soll durch die regelmäßige Abnahme der Flugunterlagen einer möglichen verschärften Kontrolle (§ 74 Abs. 1 Satz 1 AuslG) durch die befördernden Fluggesellschaften vorgebeugt werden.

Das Gericht ist nach Studium der Auskunftslage davon überzeugt, dass der Kläger schon verfolgt ausgereist ist. Als irakischem Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit drohten ihm im gesamten irakischen Staatsgebiet zum Zeitpunkt seiner Ausreise Verfolgungsmaßnahmen durch den irakischen Staat, die nach Intensität und Häufigkeit die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigen. Dabei ist nicht von Relevanz, ob der Kläger aus den unter der Kontrolle der Vereinten Nationen stehenden Gebieten der Sicherheitszone des Nordirak stammt. Denn die Verfolgungswahrscheinlichkeit, ist für alle irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit gleich zu beurteilen.

Die Gefahr, als kurdischer Volkszugehöriger von den dargelegten asylerheblichen Maßnahmen betroffen zu werden, bestand trotz der fehlenden effektiven Gebietshoheit des irakischen Staates über die Gebiete der kurdischen Sicherheitszone im Nordirak (AA vom 09.06.1997 und DOI vom 08.07.1997 an VG Braunschweig) und der damit einhergehenden vorübergehenden Unterbrechung der staatlichen Verfolgungsmaßnahmen auch im Nordirak, sowohl zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers als auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) fort. Denn die irakische Regierung hat, wie oben dargestellt, keineswegs aus " freien Stücken " ihre Gebietshoheit aufgegeben. Dies rechtfertigt die Einschätzung, dass jedenfalls das Wiederaufleben der Verfolgungsmaßnahmen zu keinem Zeitpunkt seit dem Verlust der Gebietshoheit - mit hinreichender Sicherheit - ausgeschlossen werden konnte und auch zukünftig nicht werden kann (so auch im Ergebnis DOI vom 08.07.1997 an VG Braunschweig).

Unabhängig von seiner Volkszugehörigkeit ist jeder irakische Staatsangehörige wegen seiner Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland bei seiner Rückkehr in den Irak der Gefahr einer politischen Verfolgung ausgesetzt. Denn bereits allein der Verdacht der Gegnerschaft - sei dieser auch unbegründet - führt nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen durch den irakischen Staat, was in einer Volldiktatur wie der des Irak nicht verwundert. Denn beim Irak handelt es sich um ein totalitäres Regime, das mit unberechenbaren Maßnahmen gegen jede vermutete Opposition vorgeht (AA vom 22.07.1996, DOI vom 05.07.1996 und ai vom 06.08.1996 an VG Magdeburg).