VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.08.2021 - 11 S 42/20 - asyl.net: M29996
https://www.asyl.net/rsdb/29996
Leitsatz:

Aufenthaltserlaubnis für pflegebedürftige Eltern:

1. Eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG setzt voraus, dass der schutzbedürftige Angehörige ein eigenständiges Leben im Ausland nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist. Hierbei sind auch Lebenshilfeleistungen von Verwandten zu würdigen, die nicht der sogenannten Kernfamilie angehören.

2. Die häusliche Pflege zählt regelmäßig zu den relevanten Lebenshilfeleistungen in diesem Sinne. Die Unterstützung kann jedoch auch durch vielfältige andere Formen der Hilfegewährung erfolgen. So ist eine Anwendung des § 36 Abs. 2 AufenthG nicht per se ausgeschlossen, wenn die Pflege der betroffenen Person im Wesentlichen durch Dritte erfolgt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: familiäre Beistandsgemeinschaft, Pflege, Sonstige Familienangehörige, Berufungszulassungsantrag, Lebenshilfe, Lebenshilfeleistungen, außergewöhnliche Härte,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

1. Es besteht kein Anlass, die Berufung mit Blick darauf zuzulassen, dass das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet hat, den Klägern zu 1 und 2 Aufenthaltserlaubnisse nach § 36 Abs. 2 AufenthG zu erteilen. Aus den Darlegungen der Beklagten ergibt sich nicht, dass die von ihr insofern geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung (hierzu nachfolgend a)), [...]

a) Aus der Begründung des Zulassungsantrags der Beklagten ergibt sich nicht, dass der mit dem angegriffenen Urteil erfolgte Verpflichtung der Beklagten, den Kläger zu 1 und 2 Aufenthaltserlaubnisse nach § 36 Abs. 2 AufenthG zu erteilen, ernstlichen Zweifeln im Sinne des § 124a Abs. 5 Satz 1 und § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO begegnet. [...]

(aa) Den vom Verwaltungsgericht für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "außergewöhnlichen Härte" angewandten Maßstab zieht die Beklagte insofern in Zweifel, als nach ihrer Auffassung im Falle der Pflegebedürftigkeit eines Ausländers allein auf Pflegeleistungen abzustellen sei, die direkt und im Wesentlichen von der Kernfamilie erbracht werden.

Der vom Verwaltungsgericht für die Auslegung des Begriffs der "außergewöhnlichen Härte" angelegte Maßstab begegnet aber keinen Bedenken. Das Verwaltungsgericht hat sich bei der Maßstabsbildung eng an der einschlägigen und auch heute noch aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und derjenigen des erkennenden Senats orientiert (zu Nachweisen nimmt der Senat auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf den Seiten 14 bis 18 des angegriffenen Urteils Bezug). Das Verwaltungsgericht setzt danach für die Annahme einer "außergewöhnlichen Härte" im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu Recht voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben im Ausland nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann. Weiter hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass volljährige Personen in der Regel nicht auf familiäre Leistungen zur Lebenshilfe angewiesen sind. Ebenfalls zutreffend ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass zur Klärung der Frage, ob der Ausländer einer "außergewöhnlichen Härte" ausgesetzt wäre, alle im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen, konkreten Umstände zu berücksichtigen und zu würdigen sind.

Die Annahme der Beklagten, dass insofern allein die Lebenshilfeleistungen der Mitglieder der sogenannten Kernfamilie in den Blick zu nehmen seien, ist mit dieser gefestigten Rechtsprechung nicht zu vereinbaren. Plausible Gründe, weshalb (ergänzende) Lebenshilfeleistungen naher Verwandter, die nicht der sogenannten Kernfamilie zugerechnet werden, bei der Würdigung der konkreten Gesamtsituation auszublenden sein sollten, hat die Beklagte nicht benannt. Sie hat sich insbesondere nicht damit auseinandergesetzt, dass der verfassungsrechtliche Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG auch die familiären Bindungen zwischen nahen Verwandten umfasst, die - wie etwa Großeltern im Verhältnis zu ihren Enkeln - nicht zur Kernfamilie zählen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 24.06.2014 - 1 BvR 2926/13 -, juris Rn. 22).

Ebenso wenig ist mit dem oben aufgezeigten Maßstab die Annahme der Beklagten zu vereinbaren, dass die Anwendung von § 36 Abs. 2 AufenthG auf einen krankheits-, alters- oder aus sonstigen Gründen pflegebedürftigen Ausländer nur in Betracht komme, wenn dessen häusliche Pflege im Bundesgebiet im Wesentlichen in den Händen von Familienangehörigen liege und von diesen auch direkt erbracht werde. Die Beklagte hat hierbei nicht berücksichtigt, dass man im vorliegenden Zusammenhang darauf abstellt, ob der Ausländer auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist. Das durch Familienangehörige erbrachte Engagement im Bereich der häuslichen Pflege (im Sinne des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs) wird zwar regelmäßig zum Kreis der danach relevanten Leistungen familiärer Lebenshilfe zu zählen sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieser Kreis auf ein solches Engagement beschränkt wäre. Darüber hinaus kommen vielfältige andere Formen der Hilfegewährung in Betracht, die über den rein pflegerischen Bereich hinausgehen und dem Zweck dienen, dem betroffenen Ausländer ein Leben in Würde zu ermöglichen. Ebenso wenig ist eine Anwendung von § 36 Abs. 2 AufenthG per se ausgeschlossen, wenn erhebliche Teile der häuslichen Pflege eines Ausländers durch Dritte erbracht werden. Auch in einer solchen Situation kommt es darauf an, ob der Ausländer trotz dieser Leistungen noch auf die (zusätzliche) Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist und - wenn dies der Fall ist - ob die (zusätzliche) Gewährung familiärer Lebenshilfe auf zumutbare Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann.

Insofern spielt es keine entscheidende Rolle, ob die häusliche Pflege des Ausländers vollständig durch Dritte erbracht werden könnte und ob dies auch im Heimatland des Ausländers möglich wäre. Denn nach zutreffender Einschätzung des Verwaltungsgerichts erweist sich gerade die Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, auch mit Blick auf die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig (BVerwG, Urteil vom 18.04.2013 - 10 C 10.12 -, juris Rn. 38). Ob der Wunsch eines pflegebedürftigen Ausländers, sich nicht professioneller Hilfe Dritter zu bedienen, sondern sich in familiärer Geborgenheit in die ihm vertraute persönliche Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, verständlich und nachvollziehbar erscheint (vgl. auch hierzu BVerwG, a.a.O.), ist anhand der konkreten Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen. Hiervon ist das Verwaltungsgericht zu Recht ausgegangen. [...]