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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 27.05.2021 - 1 C 6.20 - asyl.net: M29902
https://www.asyl.net/rsdb/65705
Leitsatz:

Keine isolierte Vorabverpflichtung zur Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes bei Fortführung des Asylverfahrens nach § 37 Abs. 1 AsylG:

"Ist ein Asylverfahren vom Bundesamt nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG fortzuführen, so ist eine (vorab) auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG durch das Bundesamt gerichtete (isolierte) Verpflichtungsklage nicht statthaft."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, isolierte Verpflichtungsklage, Anerkannte, internationaler Schutz in EU-Staat, Prozessrecht, Unzulässigkeit, Beschleunigungsgebot, effektiver Rechtsschutz,
Normen: AsylG § 37 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, GG Art. 19 Abs. 4, RL 2013/32/EU Art. 46
Auszüge:

[...]

10 3. Die auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Italiens gerichtete Verpflichtungsklage ist im derzeitigen Verfahrensstadium, in dem das Asylverfahren nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG vom Bundesamt fortzuführen ist, nicht statthaft.

11 Das Begehren ist zwar auf den Erlass eines feststellenden Verwaltungsakts durch das Bundesamt gerichtet und damit grundsätzlich mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2017 - 1 C 10.17 - Buchholz 402.251 § 31 AsylG Nr. 2 Rn. 17, wonach der Kläger im Falle einer Unzulässigkeitsentscheidung die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen <§ 44 VwGO> hilfsweise mit einem entsprechenden Verpflichtungsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG verbinden kann). Für den Fall eines erfolgreichen Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG sieht § 37 Abs. 1 AsylG aber vor, dass die Unzulässigkeitsentscheidung und die Abschiebungsandrohung kraft Gesetzes unwirksam werden (Satz 1) und das Bundesamt das Asylverfahren fortzuführen hat (Satz 2). Damit ist die vom Bundesamt mit der (unwirksam gewordenen) Unzulässigkeitsentscheidung verweigerte sachliche Prüfung des Asylantrags vorrangig vom Bundesamt als einer mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Fachbehörde nachzuholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 - BVerwGE 157, 18 Rn. 19). Die Unwirksamkeit der Unzulässigkeitsentscheidung entzieht der vom Bundesamt mit der Unzulässigkeitsentscheidung verbundenen (negativen) Feststellung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG die Grundlage. Die in § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG angeordnete Fortführung des Asylverfahrens durch das Bundesamt umfasst daher auch eine neuerliche Entscheidung zum nationalen Abschiebungsschutz. Prozessual hat das zur Folge, dass gegen diese mangels wirksamer Unzulässigkeitsentscheidung verfrüht ergangene Folgeentscheidung trotz des grundsätzlichen Vorrangs der Verpflichtungsklage nur eine Anfechtungsklage statthaft ist. Dies ergibt sich vor allem aus dem dem Bundesamt gemäß § 24 Abs. 2 i.V.m. § 31 Abs. 3 und 5 AsylG obliegenden "Entscheidungsprogramm" (a), das auf der Grundentscheidung beruht, dass Schutz vorrangig auf derjenigen Stufe zu gewähren ist, die den umfassendsten Schutz vermittelt (b). Zudem ist der nationale Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zielstaatsbezogen; dabei hängt der in den Blick zu nehmende Zielstaat vom Ausgang des Asylverfahrens ab (c). Das Erfordernis einer erneuten Behördenentscheidung auch in Bezug auf den nationalen Abschiebungsschutz dient der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration (d). Es verletzt weder das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG (e) noch widerspricht es Unionsrecht (f). Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Senats (g).

12 a) Mit Stellung eines Asylantrags geht die Prüfverantwortung für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG gemäß § 24 Abs. 2 AsylG von der Ausländerbehörde auf das Bundesamt über. Damit erstreckt sich die Zuständigkeit des Bundesamts über die primären Verfahrensgegenstände eines Asylverfahrens nach § 31 Abs. 2 AsylG (Asyl, Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz) hinaus auch auf die - an sich originär ausländerrechtliche - Prüfung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Inhalt und Grenzen der Entscheidungsbefugnis des Bundesamts ergeben sich aus § 31 Abs. 3 und 5 und § 32 AsylG. Nach dem dort festgelegten (objektivrechtlichen) "Entscheidungsprogramm" (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2017 - 1 C 10.17 - Buchholz 402.251 § 31 AsylG Nr. 2 Rn. 16) muss das Bundesamt abhängig vom Ergebnis der Prüfung des eigentlichen Asylantrags sowie im Falle der Antragsrücknahme oder des Verzichts auch über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht entscheiden. [...]

15 b) Dieses gesetzliche "Entscheidungsprogramm" des Bundesamts fußt auf der Grundentscheidung, dass einem Schutzsuchenden Schutz vorrangig auf derjenigen Stufe zu gewähren ist, die den umfassendsten Schutz vermittelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 - 1 C 29.17 - BVerwGE 162, 44 Rn. 44). Damit ist die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote gegenüber der Prüfung der Asylberechtigung und der Zuerkennung internationalen Schutzes nachrangig, ohne dass sich die verschiedenen Schutzformen materiell oder verfahrensrechtlich ausschließen. Der betroffene Ausländer erleidet hierdurch keinen Nachteil, weil die Zuerkennung eines positiven Schutzstatus für ihn günstigere Rechtswirkungen entfaltet und er im Falle eines Widerrufs oder einer Rücknahme eine Vollprüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG beanspruchen kann (§ 73 Abs. 3 AsylG).

16 c) Dass über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erst nach einer (wirksamen) Entscheidung über den Asylantrag zu befinden ist, ergibt sich auch daraus, dass der nationale Abschiebungsschutz zielstaatsbezogen ist. Welcher Staat dabei in den Blick zu nehmen ist, hängt vom Ausgang des Asylverfahrens ab. Ist ein Asylantrag zulässig, aber unbegründet, ist dies (vorrangig) der Herkunftsstaat. Ist der Asylantrag hingegen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat) oder nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG (Aufnahmebereitschaft eines sonstigen Drittstaats, in dem der Ausländer vor Verfolgung sicher war) unzulässig, ist dem Ausländer die Abschiebung in den Staat anzudrohen, in dem er vor Verfolgung sicher war (§ 35 AsylG). Hat das Bundesamt das Asylverfahren nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG fortzuführen, muss es im fortzuführenden Verfahren prüfen, ob es den Asylantrag erneut als unzulässig ablehnt oder - nach Verneinung eines Unzulässigkeitsgrundes - in der Sache entscheidet. Dabei muss es sich mit den vom Gericht im Eilverfahren angedeuteten Zweifeln auseinandersetzen, ist an dessen Bewertung aber nicht gebunden (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 31).

17 d) Auch der das Asylrecht prägende Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration spricht gegen die Statthaftigkeit einer vom Ausgang des Asylverfahrens entkoppelten (isolierten) Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG während eines laufenden Asylverfahrens. Dies gilt auch in den von § 37 Abs. 1 AsylG erfassten Fallkonstellationen. [...]

20 e) Die Statthaftigkeit lediglich einer auf Kassation der Entscheidung des Bundesamts zum nationalen Abschiebungsschutz gerichteten Anfechtungsklage statt einer auf positive behördliche Feststellung gerichteten Verpflichtungsklage verletzt in den von § 37 Abs. 1 AsylG erfassten Konstellationen nicht das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG. Das Bundesamt hat in dem nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG fortzuführenden Asylverfahren nach Maßgabe des § 31 Abs. 3 AsylG (erneut) über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu entscheiden. Dabei muss es sich mit den vom Gericht im Eilverfahren angedeuteten Zweifeln auseinandersetzen (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 31). Verneint es - bezogen auf den Zeitpunkt seiner neuerlichen Entscheidung - (erneut) die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, kann der Betroffene hiergegen gerichtlich vorgehen. Dies führt nicht zu der vom Kläger befürchteten Gefahr einer Rechtsschutzverweigerung. Denn die Entscheidungsinstrumente, die das Asylgesetz zur Verfügung stellt, ermöglichen dem Bundesamt auch im Falle einer neuerlichen Unzulässigkeitsentscheidung die Vermeidung einer "Endlosschleife" im Verfahren (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 31 ff.). [...]

21 f) Auch Unionsrecht steht nicht entgegen. Der nationale Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG unterliegt im Gegensatz zum internationalen Schutz keinen unionsrechtlichen Vorgaben. Insbesondere findet das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 46 RL 2013/32/EU auf ihn keine Anwendung. [...]